Freitag, 29. Januar 2010

Montag, 11. Januar 2010

Das Ringlein

Im Café habe ich mich an einen Tisch zu einer Frau dazugesetzt; es war sonst nichts mehr frei. Als ich sie um Erlaubnis fragte, hatte sie nur stumm mit der Hand auf den Stuhl gezeigt, ich glaube, sie schrieb in ihr Tagebuch. Ich bestellte und blickte dann verstohlen zu ihr hin. Sie war höchstens vierzig und sehr elegant gekleidet, trug aber keinen Schmuck. Das Büchlein, in das sie schrieb, war ein schäbiges Schulheft, aber sie schrieb mit einem Silber gefassten Bleistift. Auch sah die Schrift aus wie bei jemandem, der viel schreibt. Klein, aber sehr zierlich in sich schwingend, als häkle sie mühelos ein sehr kunstvolles Ornament aufs karierte Papier. Soweit ich sehen konnte, beachtete sie die vorgegebenen Zeilen nicht.
Plötzlich hob sie den Blick zu mir. Warme, dunkle Augen in einem schlanken Gesicht, und als hätten wir ein längeres Gespräch nur unterbrochen, fragte sie: „Und warum hast du mir noch nichts von deiner Reise erzählt? Hast du mich vermisst?“
Ich blickte sie entgeistert an und wusste nicht, was ich antworten sollte. „Sie müssen mich verwechseln“ oder „kennen wir uns?“ - nein, das war doch zu peinlich. Ich kannte ja die Angewohnheit mancher Frauen – und ich hasste sie – am Telefon einfach drauflos zu plappern, ohne ihren Namen zu nennen. Und ich versuchte dann durch geschickte Fragen herauszubringen, wer dran war, statt gleich zu sagen: „Verzeihung, mit wem spreche ich?“
Sie schien mein verwirrtes Zögern nicht zu bemerken, sie hatte sich wieder zu ihrem Tagebuch gebeugt, doch während sie schrieb, sprach sie weiter zu mir: „Nicht einmal eine Postkarte hast du mir geschrieben.“

Ich entschloss mich, auf das Spiel einzugehen und sagte: „Aber du weißt doch, wie lange die italienische Post braucht; ich habe dir diesmal sogar zwei Postkarten geschickt.“
Da schob sie ihren Bleistift in ihr Heft, klappte es zu und legte ihre Hand auf meine und sagte sanft: „Aber du weißt doch, ich bin unersättlich.“ Ihre Hand war wundervoll weich und von einer strömenden Wärme, die mir fast wie ein Stromschlag in den Körper fuhr. Ich legte meine andere, kalte Hand auf ihre, seltsame Gebärde, und versuchte zu scherzen: „Wenn du möchtest, schreibe ich dir auf der Stelle fünf weitere.“ Das wollte ich eigentlich sagen, aber meine Stimme war so verräuspert, dass ich nur Brocken herausbrachte. Währenddessen durchjagte ich mein Gedächtnis, wer sie sein könnte, der Schweiß trat mir auf die Stirne.
Sie griff mit ihrer anderen Hand nach meiner, die so froschkalt auf ihrer lag, führte sie zum Mund und biss mich ganz zart in den Zeigefinger. „Hast du mich nun vermisst oder nicht?“
Ich kannte sie nicht! So, wie sie sich verhielt, konnte sie nicht eine Bekannte aus uralten Zeiten sein. Sie verwechselte mich. Prüfend starrte ich sie an: sie war „normal“, nichts an ihr wirkte exaltiert oder sonderlich. Jetzt konnte ich nicht mehr sagen, „Verzeihung, Sie verwechseln mich mit jemandem.“ Wenn ich nur ihren Namen herausbringen könnte. Ich schielte auf ihr Tagebuch; mit schwungvoller Schrift waren zwei Initialen in das kleine Schildchen geschrieben. M.L.,- Mona Lisa dachte ich und musste gegen ein hysterisches Gelächter ankämpfen, das mir hochzukommen drohte. Also einfach abwarten, mitspielen, irgendwie würde sich das schon auflösen. „O je“, rief sie plötzlich, „das Geschenk! Wir können nicht wieder ohne Geschenk kommen.“ „Geschenk“, echote ich blödsinnig. „Ich habe heute morgen eine wunderschöne Vase gesehen, groß, weißt du. So was braucht sie wirklich noch. Dann muss sie die Blumen nicht immer in den Putzeimer stellen. Du kannst ja meinetwegen noch eine Flasche Wein besorgen. Weiß, nicht wieder rot, ja? Ist zwar nicht besonders einfallsreich –„

Sie erhob sich eilig, raffte Buch, Bleistift und ihren Schal zusammen. Sie beugte sich zu mir herunter und als ich aufstehen wollte, drückte sie mich auf den Stuhl zurück. Sie gab mir einen langen, schmelzenden Kuss auf den Mund. Aus ihrem decolleté strömte ein betörender Duft von Haut und Parfum und ich musste sehr dagegen ankämpfe, meine Hand einen Moment lang auf ihren weichen Busen zu legen, der gegen mich herandrängte. Sie tätschelte mir noch die Wage, dann rauschte sie davon. Nach wenigen Schritten kehrte sie noch einmal um, kam zu mir zurück und fragte: „Hast du die neue Adresse? Dass du ja nicht wieder in die alte Wohnung läufst, du zerstreuter Professor.“ Dann griff sie in die Brusttasche meines Jacketts, holte zielsicher meinen Füller heraus und schrieb auf die Zeitung eine Adresse. Malte noch ein kleines Herzchen dazu und dann war sie endgültig weg. Ich aber saß betäubt, verwirrt, erregt an meinem Tisch und blickte auf die Tür, durch die sie eben verschwunden war.
Ich zahlte, auch ihren Tee, und fragte die Kellnerin, möglichst nebenbei: „Sagen Sie mal, wer war die Dame an meinem Tisch?“ „Soll das witzig sein?“, gab sie übellaunig zurück. Und sie fügte hinzu, während sie die Krümel vom Tisch wischte: „Furchtbar, diese Frau, jetzt hat sie schon wieder ihren Ring liegen lassen. Nimm ihn mit und gib ihn ihr heute Abend.“ Sie gab mir einen kleinen Ring mit einem dunkelgrünen Stein. Ehe ich widersprechen konnte, war sie weg. Warum duzte mich auch die Bedienung, die ich noch nie zuvor gesehen hatte? Verzweifelt steckte ich den Ring ein und ging. Immerhin hatte ich die Adresse für heute Abend, da musste sich alles auflösen.
Da ich die schnippische Kellnerin nichts fragen wollte, ging ich hinaus und überlegte: hatte sie gesagt, wann wir uns treffen würden? Ich konnte mich nicht erinnern.

Eigentlich war ich nur spontan aus dem Zug ausgestiegen, um mir für ein Stündchen die Stadt anzuschauen, durch die ich sonst immer durchfuhr. Als ein Polizist vorbeikam, hielt ich ihn an und fragte ihn nach der Adresse auf dem Fetzen Zeitung. Er wusste es nicht, empfahl mir aber einen der Taxifahrer zu fragen, die vor dem Bahnhof standen. Auch er wusste es nicht und als er einen älteren Kollegen dazu rief, sagte der nach einem Blick auf den Zettel kopfschütteln: „Ne, so eine Straße gibt es in unserer Stadt nicht.“
Den Ring trage ich seither immer in der Hosentasche.

Vaterstag. Eine Suche in New York

1.
Er erwachte von einem Geräusch, das so fremd war, dass er sofort wusste: ich bin nicht zuhause. Es war der Regen; er schlug nicht wie sonst mit winzigen, boshaften Hämmerchen gegen das Fensterblech, unregelmäßig und spitz. Er klang soviel weicher als sonst, versöhnlich. Er raffte sich empor, mühsam wie immer und taperte im Halbdunkel ans Fenster. Als er, leicht schwindlig im Magen, hinabschaute, sah er die Tropfen auf den Stufen der Eingangstreppe zerplatzen. Im Licht der Lampe kamen sie ihm groß vor, sie mussten groß sein, wenn er sie vom neunten Stock aus so deutlich sehen konnte.
Der Regen vermochte das Großstadtfauchen nicht ganz zu ersticken, aber er dämpfte es auf ein erträgliches Maß. Es klang, als beträfe es andere. Er hatte offenbar acht, nein zehn Stunden geschlafen. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihm das zum letzten Mal passiert war. Passiert war? Das klang ja wie ein Missgeschick. Als hätte er schon alle Hoffnung auf Schlaf aufgegeben, als etwas, das ihm, wie sex, nicht mehr zustehe in seinem Alter.
Er ging zur Toilette und legte sich dann wieder aufs Bett, nur ungenau zugedeckt. Ihm fiel auf, dass das Kopfkissen die richtige Dicke hatte; sonst machten ihm fremde Kissen, wenn er schon mal wo anders schlief, unvermeidlich Nackenprobleme: sie waren immer eine endlose Nacht lang zu dick, zu dünn, so dass er unausgesetzt damit beschäftig war, sie entweder zu glätten oder zusammenzuknüllen. Behaglich streckte er sich und nun hatte er zum ersten mal das Gefühl, dass ihn diese verrückte Reise nicht mehr reute. Wie durch’s Fenster am Morgen einströmende Frischluft, so floss etwas in sein Gemüt, das anfing, die schlierige Reue der letzten Tage zu verwandeln ein neues Gefühl. Was war es? Nun, jedenfalls erst mal Entspannung und eine freudige Neugier. Er hätte nicht sagen können, warum, aber er war sich jetzt sicher: er würde ihn treffen. Vielleicht suchte der Alte seinerseits bereits nach ihm?

2.
Am dickflüssigsten war seine Mutlosigkeit gestern gewesen, am Spätnachmittag, als er mit dem Bus nach Manhattan hinein gefahren war. Als einziger Fahrgast, hin- und her geworfen wie ein Kartoffelsack auf einem Lastwagen, der über löchrige Landstraßen rumpelte. Ihm kam vor, als fahre der schwarze Busfahrer aus Wut so rabiat, weil er für einen einzigen Fahrgast die weite Strecke zurücklegen musste. Aber nicht das hin und her geschüttelt werden hatte ihn entmutigt, das konnte man zur Not mit Humor nehmen, eine Art Achterbahn; die zahllosen Auffahrten, Durchfahrten, Überfahrten gaben ihm ein Gefühl von Verlorenheit. Er fühlte sich an den übellaunigen Busfahrer ausgeliefert, musste darauf vertrauen, dass der den Weg hinein in die Stadt fand. Diese Undurchschaubarkeit war ihm eine Vorausdeutung auf das Labyrinth der Stadt. Wie sollte er da den Alten finden oder der ihn? Der berühmte Satz, den er in seiner Kindheit so oft gehört hatte: "Wir treffen uns in New York" kam ihm nun so widersinnig vor wie "Wir treffen uns auf dem Meer", "Wir treffen uns im Wald". War der Satz vielleicht absichtlich so unverbindlich gemeint, so unzuverlässig wie der Alte zeitlebens gewesen war? Kein Versprechen, vielmehr doch eins, freilich mit dem boshaften Hintersinn: Mit mir kannst du nicht rechnen. Die Mutter sprach dann vom Sankt Nimmerleinstag.

Also reingefallen? Die weite Reise über den Ozean für die Katz? Und das Geld, das die Reise gekostet hatte auch. Und wie stand er dann da? Wenn er erfolglos zurückkehrte, wer würde ihm dann noch sein heimliches Verschwinden verzeihen, die Aufregung, die er damit ausgelöst hatte? Oder hatte ihn am Ende gar keiner vermisst, am Ende waren ein paar Menschen sogar froh, ihn endlich vom Hals zu haben? Solch selbstquälerische Gedanken waren ihm gestern durch den Kopf gegangen, als er angeklammert an die Lehne seines Vordersitzes vom Flughafen nach Manhattan rumpelte. Heute Morgen war alles anders.

3.
Er ging die neun Stockwerke zu Fuß hinunter. Das schmale Treppenhaus sah sehr nach Hinterbühne aus, die normalerweise niemand betritt. Dicke, rote Feuerwehrschläuche hingen an den Wänden, es roch seltsam scharf und war stickig heiß. Das Eisengeländer war unangenehm kalt, seine Schritte hallten scheppernd, so sehr er sich mühte, leise aufzutreten und er war froh, als er endlich in die Eingangshalle hinaustrat. Er ging an den unzähligen Minibriefkästen vorbei und trat hinaus in den Regen, der dünner geworden war. Er blickte sich um und versuchte sich, den Eingang gut einzuprägen, um ihn wieder zu finden. Aber der sah genauso aus wie die zahlreichen anderen ringsumher, nur die Hausnummer unterschied ihn. Auch sonst gab es wirklich nichts, was er als Wegweiser hätte nutzen können. Er schrieb sich die Hausnummer mit einem Kugelschreiber in die Handfläche und ging unsicher auf dem schmalen Weg durch das Gelände vor zur Hauptstraße, wo er die U-Bahnstation gesehen hatte.
Am Schalter versuchte er der jungen, überaus dicken Frau klar zu machen, dass er ein Touristenticket haben wolle. Sie plärrte ihn über ihren Lautsprecher an und er verstand kein Wort. Sie offenbar auch nicht. Hinter ihm bildete sich bereits eine kleine Schlange und er fühlte, wie sich Schweiß auf seiner Stirn bildete. Einen Augenblick lang war er versucht, einfach weg zugehen, zu warten, bis sich die Warteschlange aufgelöst hatte und dann einen neuen Versuch zu starten. Da sah er einen kleinen Zettel an die Scheibe des Schalters geheftet, auf dem das Wort Touristenticket und der Preis für zwei Wochen stand. Er schob der Frau den passenden Betrag durch den Schlitz und deutete auf den Zettel. Wortlos schob sie ihm eine Plastikkarte herüber, mit einem fast frechen "Thank you very much" grabschte er dieses ticket und gab den Schalter frei.
An der Sperre mit den Drehbalken blieb er noch mal hängen. Eine rote Schrift ermunterte ihn wiederholt "swipe again", das panische Fiepen aber setzte ihn unter Druck. Als endlich ein erlösendes "go" aufleuchtete und ihn passieren ließ, floh er auf den Bahnsteig. Er schaute sich nicht um, war aber überzeugt, dass die Dicke vom Schalter grimmig hinter ihm herfeixte und dass auch einige andere U-Bahnfahrer über den doofen Alten grinsten. Erst nach einigen Tagen hatte er begriffen, dass diese Stadt Fremde, Alte, Ungeschickte anders strafte als mit Spott.

4.
Er stieg rasch in einen U-Bahnwagen, der, obwohl schon zum Stehen gekommen, schier endlos lang die Türen nicht öffnete. Er wehrte sich gegen das Gefühl, man wolle ihn damit ärgern. Ohne Fahrtziel blieb er nahe der Tür stehen und schaute sich nicht um. Das peinliche Gefühl, tollpatschig gewesen zu sein vibrierte in ihm nach und er versuchte es auf’s Konto des Fremden, nicht des Alten zu verbuchen. Hier in New York schienen die Menschen wenig Geduld mit ihm zu haben, vielleicht weil er nicht deutlich genug als Fremder zu erkennen war? Fremde schien es hier gar nicht zu geben, woran sollte man sie auch erkennen? Wiederholt war er in der kurzen Zeit seines Aufenthalts bereits nach dem Weg gefragt worden.

Er war „uptown“ gefahren und stieg an der siebenundvierzigsten Straße aus. Einfach so, er hatte sich noch keinen Plan zurechtgelegt, wo er den Alten finden oder suchen sollte. Um nicht schon wieder als Provinzler aufzufallen, mühte er sich, auf der Straße den Kopf nicht zu weit in den Nacken zu legen, doch konnte er sich kaum beherrschen, mit dem Blick den schier endlosen Hochhäusern nach oben zu folgen. Wenn der Blick am Ende angekommen war, schien er wie im Schwung nach oben auszurutschen und dann schwindelnd abzustürzen.

Nach wenigen Schritten bemerkte er, dass er in die berühmte Diamantenstrasse geraten war. Sie wirkte auf ihn ordinär, wie eine Art Sankt Pauli: Überall standen Schlepper vor den Türen, sprangen ihn an mit jener Mischung von alles versprechendem Gesicht und Desinteresse an ihm und luden ihn zudringlich zum Reinkommen ein. Schon die Übermenge der weiß blitzenden Diamantenringe auf den immergleichen Samtdeckchen hinter den Schaufenstern hatte etwas Abwertendes. Soviel Reichtum auf einem Haufen, vor jedermann hingeworfen musste den Verdacht wecken, dass keiner der glitzernden Stein echt war. Er mochte gar nicht stehen bleiben, obwohl er neugierig war und gern wenigstens einen längeren Blick auf die vielen Ringe geworfen hätte. Weil die Verkäufer sich ihm in den Weg stellten, musste er sie durch sein gesteigertes Gehtempo gleichsam aus dem Weg scheuchen. Auch das schien ihm ein Widerspruch, der seinen Verdacht nährte, es sei alles nur Talmi hier: zu so teueren Steinen gehörte ein zurück haltenderes Wesen. Schrullig auch die vielen schwarz gekleideten Juden, die über ihren schwarzen Hüten dunkelbraune Plastikhüllen trugen, gegen den Regen,- ob das regelgerecht war?!

Er hätte gern gewusst, sie teuer die Diamanten waren. Alle kamen ihm gleich groß vor, auch gleich unansehnlich, soweit er im Vorbeistreifen sehen konnte. Schmuck verband sich für ihn mit Schönheit, mit liebevollem Handwerk. Hier aber ging es offenbar um den nackten Wert eines Steins. Feine Leute werden hier wohl nicht einkaufen, dachte er, bestenfalls Neureiche. Oder naive Touristen. Und du? Ob du hierher kommen wirst? Freilich: soviel Geld hast du nie gehabt, um Mutter einen Diamanten zu schenken. Im Krieg hast du deiner jungen Frau aus Italien Schmuck geschickt: ein billiges, in den Scharnieren wackelndes Mosaikarmband, vermutlich aus Messing, das ich nach Mutters Tod aufbewahrt habe. Später hast du immer etwas mitgebracht, wenn du von deinen Stadtspaziergängen heimkamst: Obst vor allem. Das du selber nie gegessen hast. Wohl stand auf den grünen Obsttüten "Esst mehr Obst und ihr bleibt gesund", das galt aber nur für die Kinder; du hast dir lieber einen "Sargnagel" angesteckt, eine jener krummen, endlos langen Virginias, die du hundertmal anzünden musstest, weil sie hundertmal verlöschten. Seltsamerweise war ich seit der Zeit Obstesser geworden,- und Nichtraucher geblieben. Ohne tägliches Obst fehlt mir wie einem Alkoholiker etwas.

Warum hast du immer Obst mitgebracht? Weil man da nichts falsch machen kann? Um die maulige Ehefrau zu versöhnen, die auch kaum Obst aß, die aber trotz des Mitbringsels quengelte, weil du regelmäßig zum Essen zu spät nachhause gekommen bist. Wie ich dann selber, als Gymnasiast. Immer das Theater nach der Schule, die festen Vorsätze, die Versprechungen noch am Morgen vorm Wegfahren, und dann gab’s halt doch nach der Schule was zu quatschen, und bei aller Raserei mit dem Fahrrad konnte ich die Verspätung nicht aufholen. Wenn ich dann Schweiß getränkt und schnaufend hereinkam begann das Gezeter, die Vorwürfe von wegen Undankbarkeit, Rücksichtslosigkeit, solche Mühe, warmes Essen auf den Tisch zu stellen, alles für die Katz und so weiter und so fort. Und vor allem: in reichlich viel Worten und Wiederholungen. Und dann fühlte ich mich schuldig für den Rest des Nachmittags und traute mich nicht zu sagen, dass ich "schon wieder" hinaus wollte. Warum mussten wir beide, du und ich, immer hinaus? "Rasen" nannten das die beiden Frauen, die Mutter wie später meine eigene Ehefrau, seltsamerweise mit dem gleichen verächtlichen, verständnislosen Ausdruck. Der ewige Jude war zur Strafe unterwegs, weil er nicht geholfen hatte. Du und ich, wir waren beide immer hilfsbreit gewesen. Dieser Drang hinaus war eine Flucht, die von innen kam, sie sollte nicht wegführen, sondern anderswo hin, aber wohin bloß? Oder war sie doch eine Flucht, weg von einem verborgenen Mangel? Einer am Gemüt ziehenden Entbehrung von Ermutigung, von Austausch, von Neugier? Von Trost! Vielleicht warst du weggelaufen von zuhause, von der quengelnden Frau, weil sie dich wie ein Hundchen immer neben sich haben wollte. Ein anderer Trieb, vielleicht nicht weniger dumpf als der Wandertrieb ihres Ehemanns. Wie du keine Nähe ertragen konntest, in Behaglichkeit und Genügsamkeit an der Gegenwart des Andern, so die Mutter keine Trennung, keine Distanz. Und warst du dann endlich zuhause, vergällte sie dir die Rückkehr, statt sie nun mit dir zu genießen. Statt sich vom dir berichten zu lassen von draußen dämpfte sie deine Erzählungen mit abkühlenden Kommentaren, die dich in die zweite Einsamkeit der Zeitung oder des Fernsehers trieben. Oder sie erzwang das Gespräch mit dir, indem sie mit steigender Wut zankte und du genauso verbissen mit ihr, ob das nun "meine" oder "deine" Zündhölzer waren, die du wieder für deine "stinkenden" Zigarren eingesteckt hattest.

5.
Was für ein platt walzender Menschenstrom hier in „uptown“ herrschte. Wie sollte er aus diesem Vorbeirauschen den Alten herausfischen? Wenn er steif würde und breit und steinern, um die heranschwappende Menge aufzuhalten? Sie sollte sich an ihm brechen wie das Wasser an einer alten Brücke. Aber dazu hätte er tiefer verwurzelt sein müssen als nur mit den dünnen Schuhen auf dem regennassen Pflaster stehend. Er als Fels in der Brandung, wie kindisch, da die Menge ihn doch einfach umschöbe, kampflos, wie ungezogene Kinder Konservendosen aus dem Weg kicken. Er durfte nie irgendwas kicken bei den verhassten Sonntagsspaziergängen, er und seine Schwester immer einige Schritte vor den Eltern her. Streng wachte die Mutter, dass er die Schuhe nicht beschädigte durch Fußballspielen mit, - von was denn? Lagen damals schon Konservendosen auf der Straße? Und schmutzig machen durfte man sich natürlich auch nicht, keine Zweige, nicht einmal Blätter abreißen und als Schlagstock benutzen, und natürlich auch nicht die Schwester schubsen. Und rennen schon gar nicht, weil man da am Ende doch immer hinfiel und der Spaß in Tränen endete, wie die Mutter schon immer voraussah.

Wenn er sich hinkniete? Dann würde die Menge einen Bogen um ihn machen, ihm wie Kot ausweichen. Den Bettler spielen, die Hand wie einen Speer der hastenden Menge entgegenstrecken? Er rieb sich die schweißnasse Stirne, klopfte mit der flachen Hand auf sein stolperndes Herz. Was waren das nur für unsinnige Überlegungen! Hier auf der „Fith Avenue“ war er doch hilflos mit seinem lachhaften Widerstand gegen den unermesslichen Menschenschwall. Hier herrschte eine Strömung, die alles Feste wegspülte, nach wenigen Augenblicken würde er weggeschwemmt werden wie nichts. Ein Blatt Papier auf dem trüben Wasser, bald keine Nachricht mehr, unleserlich kreiselnd, die Schrift schon verwaschen und nun das Papier leer. Freilich: eine Menschentraube um sich bilden, das wäre ein sicheres Lockmittel für dich. Du bliebst gern stehen, wo andere stehen blieben. Bei Marktschreiern aller Art, hörtest dir immer wieder ihre Anpreisungen von Allesschneidemaschinen für den Haushalt an. Du, der keinen Tee kochen konnte. War es der Sog der Rhetorik, die dich, den Geschichtenerzähler festnagelte? Du konntest ja auch ewig erzählen, wie aus einer Quelle floss es bei dir. Warum bin ich so verkrallt, dachte er bitter. Bei mir fließt kein Wort, alles ist verdickt, verstockt, kontrolliert. Jeder Satz knirscht, die Gelenke der Worte kreischen. Wie anders dagegen der Alte.

6.
Er versuchte aus dem Strom der Passanten einzelne Gesichter herauszufischen. Wem von all diesen Vorbeiströmenden hätte er was zu sagen? Wer wäre geneigt, ihn kennen zu lernen? Wer würde sich etwas erwarten von ihm? Ihn wenigstens zur Kenntnis nehmen? Ihn gar zu sich nach Hause mitnehmen, wo es ruhig war und warm und nah? Er selber konnte ja auch niemanden ausmachen, der ihm etwas hätte bedeuten können, die Menschen rauschten an ihm vorbei wie die allzu rasch wieder verlöschende Untertitelung eines Films, die vom Bild ablenkte und die man in der Kürze ihres Aufscheinens doch nicht entziffern konnte. Immer nur den Anfang des Satzes, wie eine Beziehung, die abbrach, ehe sie Sinn gab.

Er riss sich aus seinen kitschiger und verquaster werdenden Gedanken und schaut sich um. Keiner der an ihm Vorbeieilenden ähnelte seinem Vater,- der es vielleicht gar nicht mehr eilig hatte? Wie du dich nun fühlen mochtest, da du keine Szene mehr zu fürchten hattest, wenn du nachhause kamst? Wie ich, dachte er Achsel zuckend. Auch darin waren sie sich nun ähnlich geworden, sie waren übrig geblieben. Alt und einsam sein war voll Ekel auf sich selbst. Oder wie siehst du das, Alter? Das war nicht das einzige, was ich dich fragen muss, jetzt endlich. Was du zeitlebens gemacht hast, - um dich davon zu nähren? - Leute anquatschen, das hatte auch der Sohn übernommen. Aber er tat das immer seltener. Er wollte kein Mitleid mit dem alten Mann, er wollte sich nicht selbst verpfeifen als einsam. Junge Frauen, die er attraktiv fand, waren ausgesprochen freundlich zu ihm, aber sie fanden ihn "süß", nahmen ihn nicht als Individuum wahr, gar als Mann, sondern als Figur im Straßentheater, als den netten Alten eben. Manchmal, wenn auch immer seltener hoffte er immer noch auf Antwort, wenn er eine freundliche Bemerkung machte. Nicht übers Wetter, dafür war er sich immer noch zu schade. So weit war es noch nicht mit ihm. Als junger Tourist hatte er sich, als wär’s ein besonders schrulliges Gesellschaftsspiel in Irland darauf eingelassen, über das Wetter zu reden. Aber jetzt, wenn im Treppenhaus jemand das Gespräch darauf brachte, weigerte er sich einfach, darauf einzugehen. Das war ihm zu primitiv, das erinnerte ihn so schmerzlich an die lebenslangen Entbehrungen eines wirklichen Austausches. Hier aber, in der fremden, der endlosen Stadt, begann er offenbar schon nach so kurzer Zeit an diesem Mangel zu leiden. Sein Schulenglisch, gar sein britischer Schulakzent, taugte hier nicht viel. Er wurde bestenfalls verstanden, seltsamerweise auch das keineswegs immer, selber verstand er von diesem ameri-kanisch oft kein Wort. Das machte ihn ängstlich und er hütete sich - ganz anders als zuhause - sein Gegenüber zu einem Gespräch zu verlocken. Es ließ ihn verstummen, nur das allernötigste reden, keineswegs aber scherzen. Dazu reichte sein Sprachschatz ohnehin nicht aus. Er hatte es immer gehasst, im Ausland so primitiv zu werden. Er kam sich vor wie ein Pianist, der sonst geschmeidig auf den Tasten hin und herhuscht und nun plötzlich dicke, steife Fausthandschuhe anhat und damit in die Tasten haut. "Hier schön sein, gut gefallen, o yes, no, no..."

Der Alte war ein guter Fußgänger, er legte täglich eine beträchtliche Strecke zurück. Nur wenn der Alte stehen blieb, habe ich eine Chance, ihn zu erwischen. Aber wo blieb der Alte stehen? Vor den Diamanten? Da kam er mit seinen paar Brocken italienisch aus dem Krieg nicht weiter. Also würde er dort nicht stehen bleiben. Aber bei den Musikern in der Untergrundbahn, zum Beispiel am „Union Square“, unten bei der“ L-line“ nach Brooklyn. Da hatte er heute Morgen auf jeder Ebene andere Musiker gesehen.

7.
Er stieg in die Untergrundbahn und fuhr diesmal „downtown“. Tatsächlich sah er beim Aussteigen sofort wieder die zwei Afrikaner. Der eine mit einer Holztrommel, der andere mit einer Art Harfe mit wenigen Saiten, zu der er kehlig und mit hoher Stimme sang. Und die Treppe hinauf stand ein Chinese, der artistisch auf einem Hackbrett hämmerte. Viele Leute blieben stehen, warfen ihm einen Dollarschein in den Instrumentenkoffer. Und stiegen, fast widerwillig, im letzten Moment in ihre U-Bahn, die metallisch dunkel in die Musik gerumpelt war.
Der Alte hatte, als er noch ganz jung war, manchmal Zither gespielt. Trotz seines verkrüppelten Zeigefingers, den er sich bei einem Unfall auf seiner Lokomotive zugezogen hatte. Und singen konnte er ohnehin gut. Zuweilen die schrulligsten Lieder, die dem Jungen immer wie selber ausgedacht vorkamen: "Ja wenn’s beim Tag dunkel wär’ und in der Nacht hell, dann schienen die Sterne mittags..."

Auch hier bei den Musikern war der Alte nirgends zu sehen. In dieser riesigen Stadt gab es nicht wie zuhause die wenigen Fahrrinnen, die der Alte regelmäßig benutzte, mit winzigen Abweichungen, kleinen spontanen Variationen, da konnte man fast auf ihn warten, wenn man nur stehen blieb und ein bisschen Geduld hatte. Sie würden sich nicht zufällig treffen, das war ihm jetzt klar. Zufall gab es für sie beide keinen mehr. Gab’s den überhaupt? Bei einem Verkehrsunfall zum Beispiel, da führen Linien aufeinander zu, je weiter weg man sie verfolgt, umso unglaubwürdiger wird es, dass sie sich je schneiden könnten. Nur wenn man umgekehrt dachte, dann wurde das sich Schneiden der Linien immer wahrscheinlicher und von einem gewissen Punkt aus unvermeidlich. Er hasste den Zufall, obwohl durch Zufall soviel Wichtiges geschah, nicht nur Unerwünschtes! Er hatte nie daran geglaubt, dass jemand die zahlreichen Schicksalsfäden seines Lebens lenkte. Und doch: Was war denn nicht Zufall? Was für eine Schmach, der Gedanke, dass er auch ganz andere Frauen hätten kennen und lieben und hassen hätte können, so wie er sein Leben einem Zufall verdankte. Dass ein ganz Andrer sein Vater hätte werden können und er dann ein anderer Sohn. Und so weiter. Missmutig beschloss er, den Alten heute nicht mehr zu suchen. Er riss sich los vom chinesischen Hackbrettspieler, nicht ohne vor dem Sprung in die U-Bahn einen neugierigen Blick in die Instrumentenkiste zu werfen. Da lagen ganz schön viele Dollarscheine drin. Zu Recht!



8.
Als er vor seiner Unterkunft stand, überlegte er, ob er gleich hochgehen sollte, oder vorher noch ins Café. Er entschied sich dafür, in die Wohnung hochzugehen und die feuchten Socken zu wechseln. Die Schuhe waren nicht nur ausgetreten, sondern auch nicht mehr wasserdicht, aber er hing an ihnen. Er zog auch noch die Hose aus, die Beine waren unten klamm vom Regen und setzte sich auf den Sessel, die riesige Sunday Times auf dem Schoß. Das Papier war unangenehm kalt auf den nackten Knien. Er legte erst die kleine Decke darüber, die er im Flugzug mitgenommen hatte, und die ihm seltsam ans Herz gewachsen war. Im Radio hörte er das f-moll Quintett vom Brahms und schlief vor Müdigkeit im Sitzen ein.

9.
Er überquerte die 14. Straße und schlenderte die „Avenue A“ hinab. Die ärmliche Gegend war ihm angenehmer als gestern das protzigglatte „Up-town“. Nach wenigen Schritten sah er an einer Straßenecke ein kleines Café. "Pick me up" war über einem auf die Mauer gemalten Bild geschrieben und durch die kleinen Fenster leuchtete es einladend heraus. Vor den Fenstern standen winzige Metalltische auf dem Bürgersteig, an denen ein paar Knallharte in Mäntel verhüllt saßen und ihr Gesicht der Wintersonne entgegenstreckten.
Drin war es schummrig, an den winzigen Fenstern saßen junge Leute, Studenten vermutlich. Fast alle schrieben in ein Notizbuch, viele auch in einen Laptop. An der Decke drehte sich ein Propeller, an den Fenstern hingen große rote Weihnachtsschleifen. Wenige gelbe Lämpchen, dazu zahlreiche kleine Weihnachtslichter an der Theke verstärkten die rötlichheimelige Stimmung. Es gab ein verlockendes Angebot an Kuchen, er konnte sich gar nicht entscheiden. Er bestellte eine heiße Schokolade und es gab einiges Hin- und Her, weil er die Frage des Mädchens, das ihn bediente nicht verstand. Sie wollte wissen, ob er seine Schokolade mit oder ohne Sahne haben wolle. Als er endlich begriff, lachte das Mädchen und ihre Kollegin herzlich mit ihm, sie machten ihm das Café gleich noch sympathischer.

Für Alkoholbestellungen, stand auf einem Zettel neben der Kasse, müsse man den ID (den Personalausweis?) bereithalten. Und dann stand auf einem anderen Zettel, dass Rauchen zwar erlaubt aber ungesund sei, auch das passive, - was aber niemanden zu stören oder zu ängstigen schien. Es war Selbstbedienung. Man ging zur Theke, bestellte sein Getränk mit der Zusatzerklärung "to stay"/to go", das hatte er zum Glück bei seinen Vorgängern gleich begriffen. Irgendwie aufgekratzt setzte er sich mit dem Bestellten an einen freien Tisch. Er hatte sich dann doch für einen „cheesecake“ entschieden, der wundervoll schmeckte, für ein Frühstück vielleicht ein wenig zu süß und sahnig. Als ein Fensterplatz frei wurde zog er dorthin um.
Durch die Scheibe stach die Morgensonne und blendete ihn auf beglückende Weise und wie auf Kommando ertönte nun eine sanfte Gitarrenmusik. Wirklich ein schöner Ort zum Sinnieren, zum Schreiben, schön auch zum Tuscheln, dachte er, wenn man jemanden hätte. Ringsum saßen genug hübsche junge Frauen die ihn aber nicht wahrnahmen.
Im Stadtführer las er, dass da da draußen vor dem Café der „Thomkinspark“ war. Früher nächtlicher Schlafplatz vieler „junkies“, bis sie dann in der legendären Schlacht mit der Polizei vertrieben worden waren. Jetzt lehnten Christbäume zusammengeschnürt am Drahtgitter, das den Platz umschloss. Er schaute sich wieder im Café um: Ich bin bestimmt der älteste Gast, dachte er. Was war bloß in diesem Café so gemütlich? Es wirkte sehr privat. Die drei Propeller drehten sich oben eher träge, die Decke glänzte dreckig in einem vergilbten elfenbein wie auf Schiffen. Sie sah aus wie angestrichene Blechplatten.

Der Alte war lieber draußen, er drinnen. Warum hielt er sich so gern in Cafés auf? Aus Hoffnung auf Bekanntschaften, auf ein Gespräch? Oder weil im Café, anders als bei ihm zuhause, der Tisch immer frei war? Keine Bücher oder sonst was drauf. Hier waren auf dem Tisch nur sein Getränk und die Zeitung. Im Café war man nicht allein, man konnte sich einbilden, die anderen wären seine Gäste. Nein, noch besser: dass man der Gast ist, der wieder gehen kann, wann er will, er muss niemanden hinauswerfen und auch nicht warten bis der Besuch endlich geht.

Die Sonne war verschwunden und nun quoll es draußen grau auf, eine ungenaue Tageszeit, man hätte nicht sagen können, ob Vormittag oder Nachmittag. Er fühlte sich wieder melancholisch, wusste nicht warum. Wegen des schlechten Schlafes, weil einer ewig Musik gemacht hat irgendwo im riesigen Haus? Er wunderte sich, dass er nicht das Gefühl weit weg zu sein hatte, jedenfalls nicht so weit, wie er in Wahrheit war.

10.
Am Nebentisch hatte einer um die fünfzig im grünen Anorak Platz genommen. Er war bärtig und hatte zerzauste Haare, er rauchte dicke Zigarettenwolken in die Luft, stützte den Kopf in die eine Hand und las konzentriert eine Zeitung. Hin und wieder trank er aus einem Mitnahmebecher („to go“) und warf ihn dann geschickt in den Papierkorb, fast ohne hinzusehen. Er hatte eine verbeulte Mütze auf, eine unelegante Brille. Warum machte der Mann einen so konzentrierten Eindruck? Er hatte so gar nichts Zögerliches, nichts Zerfließendes, weder in Freundlichkeit noch in Aufmerksamkeit für andere. Er ist ganz für sich da, dachte er neidisch, nicht so porös wie ich; nicht alles wahrnehmend, ohne Hunger nach anderen. Zwischen ihm und der Welt war kein Zwischenraum. Und nichts quoll aus ihm heraus, kein Beute suchender Jägerblick: wer will was von mir?! Kein Gockelblick: wie wirke ich auf euch? Wie nahe er beim Entziffern den Kopf an die Zeitung hielt, da blieb kein Spalt, in den sich etwas anderes hätte schieben können. Verglichen mit ihm kam er sich vor wie eine nicht glatt genug verzurrte Verpackung, die bei jedem Wind zu flattern begann.
Ach, er träumte von Souveränität und Distanz und hatte doch eine unaufschiebbare Sehnsucht nach Nähe, je älter er wurde, umso dringlicher. Mein Gott, immer Händchen halten, Hand in Hand gehen mit einer Frau, sich anklammern, war das nicht kindisch? Sein sexuelles Begehren war verrauscht, nicht aber dieser beschämende Hunger nach Nähe.

Er hätte sich gern an den Tisch einer der jungen Frauen hier im Café herangesetzt und ihre weiche Nähe gespürt, ihren Duft, ihre Hand warm auf seinem Oberschenkel wie früher beim Autofahren. Kam nicht aller Trost von Händen? Die treuherzige Wunderhand der kleinen Kinder, selbst noch die schrundige Hausfrauenhand seiner Ehefrau hatte ihn immer sogleich getröstet. Hatte die Mutter nicht auch solche Reibeisenhände gehabt? Oder hatte sie weiche Hände gehabt? Er konnte sich plötzlich nicht mehr an ihren Händedruck erinnern, das irritierte ihn sehr.
Ihm fielen auf der Straße oft junge Mädchen auf, deren Leib, die Brüste zumindest, erblüht waren, ja strotzten, aber die Hände waren nach hinten gebogene Kinderhändchen, dünn, sicher feucht, kraftlos, ohne Sinn fürs Zupacken. Als hörte das Gefühl an den Ellenbogen auf, komme nicht weiter nach vorne. Die Hexe im Hänsel&Gretel Märchen hätte solche Hände nicht als Zeichen der Reife akzeptiert.

11.
Draußen fing es an zu regnen, er sah die Tropfen auf dem Pflaster zerplatzen. Die Passanten gingen vorgebeugt und mit zusammengekniffenen Augen vorbei, hatten die Kapuzen ihrer Anoraks in die Stirn gezogen. Seltsamerweise änderte sich nichts an der grauen Farbe draußen, fast schien es ihm, als sei es heller geworden, vielleicht weil auf der regennassen Straße die Spiegelung dazugekommen war, die das Flache des Grau in die Tiefe vermehrte; auch die Farben der vorbeifahrenden Autos und ihrer Lichter verdoppelten sich nun. Die Spiegelung auf der Regenstrasse machte die Welt größer, ergänzte sie nach unten; es war wie ein unvermuteter Blick in den Schnürboden eines Theaters.
Es war ein dünner, müder Regen, kein Sommerprasseln mit gewaltigem Rauschen. Die Musik im Café schien sich dem sanften Regen anpassen zu wollen. Sie war nun ebenfalls weich und zog sich endlos wie bei einer Autofahrt im Kino. Wenn er leicht würde, hinausschwebte auf die Straße, freilich von niemandem gesehen, damit keiner hoch gaffte und mit den Fingern auf ihn zeigte. Aber wozu über die Häuser fliegen, wo sie von oben noch abgeschlossener wirkten als von der Straße aus. Lieber hier im Café wie Rauch oder Duft um die anderen Gäste fließen, hören, was sie denken. Wie man an Türen vorbei schleicht und lauscht, oder von Passanten einige Brocken aufschnappt, ehe sie vorbei sind.

Er rief sich zur Ordnung, erinnerte sich ein wenig kleinlaut, warum er in diese Stadt gekommen war. Hier drinnen würde er ihn jedenfalls nicht finden, der Vater war kein Caféhaushocker wie er. Er war Wanderer, Straßengänger, fand in den Straßen seine kleinen Kontakte, die er kurz berührte, mit Worten, kessen Bemerkungen, um dann leicht weiter zu schwimmen, nie lästig, nie aufdringlich, nie hungrig nach mehr.
Er quälte sich in seine Jacke, die peinlich verwurstelt war. Gleich wird einer der jungen Leute aufspringen und mir rein helfen, wie peinlich. Ohne sich umzudrehen, ging er hinaus in den Nieselregen.

12.
Gleich neben dem Café gab es ein Geschäft mit zahllosen Postkarten, sehr witzigen, nicht den Standardkitsch für Touristen. An wen sollte er schreiben? Im Haus lebte er weit gehend isoliert, nur mit dem jungen Paar, deren Blumen er manchmal goss, wenn sie verreisten, sprach er mehr als das üblichen Guten Tag. Früher hatte er immer viel geschrieben, das war teuer, ein fester Posten seiner Reisenkosten, die Karten und noch mehr das Porto. Dazu seine kindliche Angewohnheit, neben seine Unterschrift ein Herzchen zu malen, rot. Wie peinlich. Bei wem sollte er sich in Erinnerung bringen? Du hast nie geschrieben und wenn schon, "alle heiligen Zeiten" wie du das nanntest, dann höchst formelhaft, mit dem Schreibgerät kämpfend, das du wie einen Meißel mit deiner Handwerkerpfote umklammertest. Die Schrift wurde im Alter immer kleiner, ganz im Gegensatz zu deiner schwungvollen Unterschrift, die die Frau immer verhöhnte: den Anfangsbuchstaben ausfaltend wie eine Pirouette, ein sich selbst Einschnüren in ein dünnes, unreißbares Band. Den Rest des Namens dann verklingend, verzuckend im Tintenfluss.

13.
Mit einem seltsamen Glücksgefühl, wie nach einem überstürzten Schluck Wein auf nüchternen Magen schlenderte er durch die kalten Strassen der fremden Stadt. Er hatte das Gefühl, dass niemand ihn wahrnahm. War er unsichtbar geworden, schon nach wenigen Tagen? Nicht einmal Bettler witterten in ihm eine Beute, die der Fremde, Unsichere, doch immer abgibt. Aber er fiel nicht auf, weil hier, besonders in dieser Ecke der Stadt, alle gleich unähnlich aussahen. Kleidung war hier in der „lower eastside“ nicht das Kennzeichen eines herausgehobenen Stands, oder Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Kleidung war hier nichts weiter als Schutz gegen die Winterkälte. Man sah ihm hier auch nicht den, verglichen mit Vielen, größeren Reichtum an. Immerhin konnte er sich leisten, mehr als sechstausend Kilometer über den Ozean zu fliegen, und noch mehr: müßig durch die Stadt zu schweifen mit keinem anderen Ziel, als seinen Vater zu treffen.

Ich sehe die Menschen, dachte er, aber sie sehen mich nicht. Vielleicht halten nur noch Taxifahrer Ausschau nach mir. Er könnte in eines dieser gelben Autos steigen, aber dann würde er sich entfernt fühlen, abgeschnitten durch eine Glaswand von den Menschen auf der Straße und ihren Bewegungen und Geräuschen. Auch hatte er Angst, im Taxi den Fahrer nicht zu verstehen, wenn der mit ihm reden wollte. Hier draußen war er sicherer und konnte seinen Weg spontan fortsetzen, über die Straße gehen oder abbiegen oder auch, wenn ihm danach war einfach stehen bleiben. Auch dann fiel er offenbar nicht auf, weil an vielen Orten Menschen standen. Schwarze vor allem standen vor dem Eingang eines Geschäftes und zeigten keine Eile, keine Erwartung. Offenbar hatten sie kein Ziel, erwarteten auch niemanden. Er überlegte, ob sie zu arm waren, um in das Geschäft, in das Lokal hineinzugehen, um sich dort etwas zu kaufen. Aufwärmen konnte man sich ja auch nur über den Umweg eines Kaufs, einen Kaffee oder sogar noch was zu essen dazu. Wenn er die Sprache besser könnte, würde er gern den einen oder anderen ansprechen, in ein Gespräch verwickeln, ihn nach seinem Leben ausfragen. Ob er ihm etwas erzählen würde? Das könnte doch eine wohlige Abwechslung ins Alltagseinerlei bringen, vielleicht sogar eine gewisse Aufwertung, wenn ein Fremder wissen wollte, wie man hier so lebte, was man fühlte, was man tat. Oder wollten die Leute eher ihren Frieden vor ihm haben? Warum sollte es hier anders sein als zuhause?

Plötzlich hatte er keine Lust mehr, auf der Straße zu gehen, es war zwar trotz des Regens mild, er wollte nun lieber im Warmen sitzen, Ruhe und Behaglichkeit um sich herum haben. Sonst, wenn er in Berlin war, fand er oft nicht nach Hause, erwartete sich auch von zuhause nicht dieses Glück des Heimkehrens, das Einlaufen in den schützenden Hafen der eigenen Wohnung. Dann rannte er in die soundsovielte Buchhandlung. Nichts in der simplen Pension, wo er hier schlief, würde ihn als vertraut begrüßen, trotzdem erschien sie ihm nun einladend wie eine Heimat. Und er ging fast im Eilschritt zurück.

14.
Nachts hörte er einen schrecklichen Schrei, dessen Echo sich rasch in der Siedlung entfernte, kehlig, wie von einer Schwarzen, aber es klang nicht nach Untat, eher nach Verzweiflung. Er war davon sofort hellwach geworden und sehr erschrocken. Er fühlte sich so hilflos. Niemand reagierte, kein geöffnetes Fenster war zu hören, keine Rufe oder Fragen. Er saß aufrecht im Bett und überlegte: Ringsum Millionen von Menschen und in Wahrheit ist man doch von allen verlassen. Was hätte er denn machen können? Hinunter rufen: „Hello: what’s up? Do you need help?“ In dieser Stadt lebten so viele Menschen nebeneinander, darauf angewiesen, sich nicht immer wahrzunehmen, einander auch einmal von der Aufmerksamkeit zu verschonen. Übersehen kann auch eine Tugend sein, bei der man dem anderen die Chance gibt, wenn es auch ein Schwindel ist, den alle kennen, dass er nicht kontrolliert wird. War er als Fremder in dieser Stadt, in der er sich nicht gut genug ausdrücken kann, in der er die meisten Menschen nur sehr wenig verstand, nicht noch hilfloser? Am Boden zu liegen und Hilfe zu brauchen, das war seine Grundangst. Ringsum stehen Leute, tuscheln, fragen, was hat er denn?? Wie grässlich. Er hatte sein Leben lang selbständig sein wollen und war es doch nie.

Als es draußen ruhig blieb, ließ er sich wieder im Bett zurücksinken, einschlafen konnte er aber nicht mehr. Er wusste schon, was nun kam. Früher, wenn er nachts wach lag und neben ihm die Frau ihre nächtlichen Lieder sang, den Walfischgesang der Dunkelheit, so hatte er ihr Seufzen beim Ausatmen genannt. Da überlegte er dann im Kreis, was er tun sollte? Am besten wäre gewesen, aufzustehen und wo anders zu schlafen, aber das war ein großer Aufwand, schien ihm; außerdem wurde dann die Frau wach und fragte, was los sei und ob ihm was fehle. Sagte er ihr, dass es an ihrem Seufzen lag, dass er nicht schlafen konnte - lag es denn daran? - bedauerte sie ihn aufrichtig und bat ihn, sie doch einfach anzustoßen und er sagte dann auch wieder - und das Ganze schnurrte ab wie ein gelernter Dialog in einem Theaterstück - dass er dann die ganze Nacht damit beschäftigt sei, sie anzustoßen und dass es damit auf das selbe hinauskomme, schlafen könne er dann so oder so nicht. Und sie schlief gleich wieder ein und er blieb wach, lange Zeit wach. Als er dann allein war, warum schlief er in den grabstillen Nächten auch wieder nicht?

Was in ihm war so störanfällig, dass es ihn nicht schlafen ließ? Der Alte legte sich ins Bett, drehte sich einmal um, zweimal um, und war eingeschlafen. Und wenn es mal nicht so schnell ging, machte er ein Riesentheater, hielt sich für todkrank. Und der Sohn? War es bei ihm einfach Unfähigkeit, die Nacht in Ruhe zu lassen? Wenn das Licht verschwunden war und so vieles aus dem Sichtbaren mitgenommen hat, sollte das doch für ihn der Anlass sein, sich auf sich zurückzuziehen und die Welt in Frieden zu lassen. Ihr seine Aufmerksamkeit zu ersparen. Sie nicht länger mit seinen Blicken zu betatschen, mit seinen Wünschen zu behelligen. Ganz mit sich allein zufrieden zu sein, mit sich vorlieb zu nehmen? Aber er trieb es wie die Mutter, stundenlang blieb er wach und grübelte sich müde und wurde es doch nicht.
Warst du denn mit dir zufrieden? Zum Beispiel wenn du allein durch die Berge strichst, oder in deinem Garten in der Sonne lagst? Da brauchtest du niemanden mehr. Der Sohn hingegen hatte sich immer noch mit tausend Schnüren an die Welt gebunden. Und ließ sie an seiner Seele zurren, statt die Taue zu kappen und sich aufs Meer des Vergessens hinaustreiben zu lassen. Er erinnerte sich mit großem Glück, wenn auch mit einigem Schaudern, wie er einmal mit einem Bootchen auf einem bayerischen See sich hinaustreiben ließ, einnickend im Plätschern und sanften Babyschaukeln und wie, als er zurück musste die Ehefrau sagte, sie hätte es ihm so sehr gegönnt. Sie also verstand, was es bedeuten könnte, losgelöst hinauszutreiben.
Ob so das Sterben war, wenn man den Tod erst akzeptiert hatte? Leicht werden, davon schweben, wegschwimmen. Hinauf oder hinunter gab es dann nicht mehr. Nachts dachte er oft an dieses Gefühl und wie es sein werde, wenn es soweit war. So lag er dann wach und hörte das Seufzen und Singen der Frau neben sich. Die ihm so auch in der Nacht, im Schlaf keine Ruhe ließ. Aber doch nicht absichtlich, sondern aus der eigenen Not. Sie haben sich beide nicht entschließen können, nachts getrennt zu schlafen, warum nicht? Fühlte er sich ohne sie einsam oder meinte er, für sie auch nachts verantwortlich zu sein? War’s die Angst, allein zu schlafen, wie Kinder Angst haben, wegzutreiben ins Land der Dunkelheit, vielleicht auch der bösen Träume, ohne Rückkehr zu den abwesenden Eltern? Dabei ist es lebensnotwendig, ausreichend Schlaf zu finden, das wusste er und er wusste auch, dass er sein Leben durch sein Wachen sehr verkürzte. Ohnehin hatte er in den letzten Jahren zu wenig geschlafen. Wenn das alles auf dem Konto seiner Lebenszeit angerechnet worden war, dann hatte er ein böses Minus. Wenn man das mal sehen könnte: wie die Bilanz aussah. Wie es einen Anzeiger an Batterien gibt, wieweit sie noch aufgeladen sind. Wenn man das jeden Tag sähe, das würde einen auch verrückt machen. Also nur manchmal. Dreimal im Leben? Heute Nacht wüsste er es sehr gerne und würde nicht verrückt werden. Er war immer mehr vom Gefühl besetzt, dass es nicht mehr viel Wichtiges gab, das er unbedingt haben müsse. Den Vater noch, dann bin ich durch.

15.
Es hatte keine Zweck: er würde nicht mehr einschlafen können. Ohnehin hatte er die Zeitumstellung immer noch nicht verkraftet. Er stand auf, suchte die Uhr und sah mit Entsetzen: hier war es erst vier Uhr in der Früh. Trotzdem blieb er auf. Er breitete eine Decke auf dem Boden aus und begann seine Gymnastik. Er hatte sich dafür aus einem Buch einige Seite fotokopiert und mitgenommen. Die legte er neben sich auf den Teppich und führte die Übungen durch. Schon bald fühlte er sich wie ein poröser alter Gummi, der keine Spannkraft mehr hat. Er geriet ins Zittern, weil die Muskeln so ungeübt waren. "Bruder Esel", diese liebevoll-ironische Anrede des Heiligen Franziskus für den Leib, die am Ende eine boshafte Verachtung, jedenfalls Missachtung des Körpers ist, hatte ihm immer gefallen. Lebenslang hatte er ihn vernachlässigt, wo doch sein anfälliger Zustand besondere Zuwendung erfordert hätte. Von Anfang gab es Probleme: das Herz, dann die Lunge, später das Knie, der Ellbogen, die Zähne. Immer ging irgendwas kaputt und er wartete gläubig darauf, dass das der Körper selber wieder hinbiege. Er hielt sich da raus. Ein seltsamer selbst Heilungsfetischismus hatte ihn zeit Lebens begleitet. Von einer Fürsorgepflicht für den eigenen Körper wusste er nichts.
Dagegen der Alte: immer am jammern, ein echter Hypochonder, der unausgesetzt Angst vorm Sterben hatte, beim kleinsten Schnupfen; der alle möglichen Pillen runterwürgte und am Ende so alt wurde. Du hast nie Gymnastik gemacht. Du bist einfach nur immer herumgelaufen, auf und ab in der Stadt, hinauf und hinunter in den Bergen.

Es hat mir an einer gesunden Eitelkeit gefehlt, die den eigenen Körper beachtet, hätschelt, ihm auch was gönnt, ihn nicht immer nur ausbeutet. Ich habe meinem Körper übermäßig viel zugemutet; sein Seufzen solange überhört, bis es wieder einmal zu einem Schaden gekommen war, der kaum mehr gutzumachen war. Dann kam die wehleidige Klage, ach, mein Körper taugt nicht viel.

Warum hatte er nie in Erwägung gezogen, seinen Körper mit Schlaf zu belohnen? Er nahm ihm den Schlaf einfach weg, wie ein gedankenloser Ehemann der Frau die Zärtlichkeit entzieht, weil er sie vergisst. Für Sport hatte er nie Interesse, für’s Zuschauen noch weniger. Hunger und Durst ungerührt ertragen, Müdigkeit nicht zur Kenntnis genommen, Schmerzen überhört, übersehen, oder wie soll man sagen: überfühlt? Und bloß keine Klage! Das Wehwehchenaufzählen war ihm immer verhasst. Der große Schock, als das Loch im Herzen lebensbedrohlich wird, als die Operation nur mühsam gelingt und der Kunstfehler lebenslange Gefahr bedeutet.

Sein Herz pochte in den Schläfen und er roch, wie bitterer Schweiß aus seinen Achselhöhlen zu dampfen begann. Das war kein Sommerschweiß, der ölig strömte und geruchlos blieb. Ächzend richtete er sich auf. Hatte es noch Sinn, jetzt, gleichsam im letzten Augenblick, an den Körper zu denken? Ihm mehr als das Gnadenbrot zukommen zu lassen? Er schob die Decke, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte, mit dem Fuß in eine Ecke und ging schnaufend ins Bad.

16.
Manchmal muss er so dringend pinkeln, dass es eine Qual ist. Es lässt sich wohl erst noch mal verdrängen, nach einiger Zeit aber kommt es so dringlich zurück, dass er nur noch damit beschäftigt ist, nicht in die Hose zu pissen. Das Zittern der Hand an der Tür, wenn der Schlüssel nicht sogleich passen will. Endlich geht die Tür auf und dann zum Bad rennen, unterwegs schon die Hose öffnen, schon vorher kommen die ersten Tropfen. Dann die ungeheure Erleichterung, Altmännerlust? Man liest, dass man bei Folterungen die Leute nicht pissen lässt.
Wie an so kleinen Körperteilen der ganze Mensch konzentriert scheint, in der Lust ja auch. Als er zum ersten Mal seine Hand auf einen weiblichen Schamhügel legte und es seinen ganzen Körper durchelektrisierte und ihn keuchen ließ. Wie schrecklich muss Inkontinenz sein, wenn man - warum die alten Frauen vor allem? - eine Wolke von Urin verbreitet, es offenbar selber nicht mehr bemerkt. Nicht mehr Herr über seinen Körper, der Körper gehorcht einem nicht und wie die Redewendungen lauteten. Vieles an seinem Körper verweigerte ja tatsächlich schon den Gehorsam; die Augen: ohne Brille konnte er nicht mehr lesen, den Stadtplan zB. Und die Ohren? Davon merkte er zumindest noch nichts. Aber das Kreuz, die Knie, das linke Armgelenk. Der Pupsfleck in der Unterhose. Und wenn dann die Hand zittert und den Kaffee verschüttet? Das Krauchen am Stock, Aus- und Einsteigen aus dem Bus ein Akrobatikakt. Bei einer Flucht vor irgendeiner Katastrophe bliebe er rettungslos zurück.

Die Alten hier im Supermarkt mit ihren Blechgittereinkaufswagen. Rot oder blau, wie aus Gartenzaun zusammengeschraubt. Die Alten schieben den Wagen nicht, sie hängen an ihm dran, er ist ihr fahrbarer Gehstock. Mit kleinen, schlurfenden Schritten, die die Füße nicht mehr vom Boden heben, von der Erde kommst du zur Erde wirst du zurückkehren. Das Wägelchen zerrt sie hinter sich her wie sonst nur hastige Mütter ihre kleinen Kinder. Ob sie Muster in den Bürgersteig kratzen, wie die Gletscher? Sie schaben, schieben, schlurfen, tappen, trippeln einen Greisenfoxtrott. Man rennt dem Glück nicht mehr hinterher, weil man weiß, dass es hinter einem liegt.

Früher, viel früher, als er jung war, blickte er mit Schaudern auf die fleckigen Beine der alten Männer, die am Strand entlang stelzten. Auf ihre Bierkugelbäuche, die sie vor sich herschaukelten. Freilich nicht weniger angewidert beobachtete er die faltigen, mit Fettringen umgebenen Körper der Frauen. Nun war er selber alt. Und sah genauso aus. Und die, die jetzt jung waren, würde sich vor ihm ekeln. Immerhin stellte er seinen Leib nicht zur Schau.

Albern? Peinlich? Er stand also doch nicht zu seinem Verfall, jedenfalls seinem körperlichen, den geistigen nahm er nicht wahr, ihm glaubte er auch noch entgangen zu sein. War es wegen der Frauen? Also wollte er doch noch Frauen anziehen, für sich gewinnen? Es konnte ihm doch gleichgültig sein, ob sie ihrerseits ihn begehrten oder verabscheuten, wenn er sie nicht mehr begehrte. Freilich war er ohnehin nie seines Leibes wegen erfolgreich bei den Frauen gewesen. Jedenfalls nicht bei jenen, die auf Muskeln was gaben, auf Kraft. Auf „machos“, pflegte er verächtlich zu sagen; wer weiß, wie viel saure Traubenphilosophie dabei war. Hatte er sich von vornherein die Frauentypen ausgesucht, bei denen er mit dem, was er zu bieten hatte, landen konnte? Es waren ja lange Zeit immer die Verschmachteten, die großäugig Schüchternen, auf die er wie der Adler - der Geier? - aus großer Höhe herabstieß. Die konnte er bewundern, ermutigen, aufbauen, , - und waren am Ende doch immer ein Fass ohne Boden, so ging das Spiel endlos fort. Denn was soll man mit einer Trostbedürftigen anfangen, wenn man sie getröstet hat? Und sie keinen Trost mehr braucht?
Er hatte zeitlebens viel mit seinen Blicken gearbeitet, mit den dienenden Händen. Er war auch eher ein Nahkämpfer, mit seiner Kopfkissenstimme, die schon in der Kneipe nicht mehr über den Lärm zu dringen vermochte. Er wollte immer den Atem der Frau hören, besonders wenn er sie befriedigte. Du hast nie über Frauen mit mir gesprochen; jedenfalls nichts Vernünftiges, nichts Sinnvolles, nie über sex.

17.
Pappiger Schnee begann gegen das Fenster zu taumeln, blieb am Mückengitter hängen, wo die kalte Luft ins Zimmer kroch. Dort schmolz er und tropfte herab. Nicht in regelmäßigen Tropfen, auch nicht im Dauerrauschen des Regens, vielmehr ohne Rhythmus. Boshaft willkürlich. Der Fluss der Zeit schien aufgehoben, es gab nur noch Einzelereignisse, nichts mehr war vorhersehbar. Unmöglich, sich auf den kleinen Schrecken des klatschenden Aufschlags des Tropfens vorzubereiten. Und wenn der Tropfen klackte, war es auch schon vorbei.

Gereizt zwängte er sich in die Schuhe, musste sich einen Augenblick am Türrahmen festhalten, weil ihm vom schnellen Aufrichten schwindelte, dann ging er hinab auf die Straße.
Als er am Morgen aus dem Fenster geblickt hatte, war es ihm albern vorgekommen, fast lächerlich, wie dünn der Schneefall, vom Wind nahezu waagrecht getrieben, vorbeizog. Ringsum war alles winterduster, das vergilbte Laub im Park, die blätterlosen Bäume am Straßenrand, selbst das Wasser im „East River“ war dunkel. Was sollte das Weiß ausrichten? In kurzer Zeit hatte der Schnee aber eine Decke über alles gezogen. Noch löchrig und durchsichtig dünn. Es hatte ungewöhnlich viel geschneit, die Autos hatten dicke weiße Hauben und auf den Bürgersteigen gab es bald nur noch schmale Trampelpfade, auf denen sich die Menschen aneinander vorbei wanden. Das Waten durch den hohen Schnee war äußerst mühsam. Schwankend, abrutschend, versinkend schlitterte man voran, als hätte man auch unter dem Schneeteppich keinen festen Boden unter den Füßen. Die Entfernungen wuchsen an. Bald bildeten sich an den Knöcheln Wunden von den sich verkantenden Schuhen. Die Hosenbeine wurden nass und schlotterten schwer.
Der Schneefall hatte die U-Bahnen mit Fahrgästen voll geschaufelt, die Busse krochen ja noch langsamer als sonst durch die Straßen, außerdem konnte man nicht mehr ablesen, wohin sie fuhren, ihre Schilder waren zugeschneit.

Unschlüssig, wie es weitergehen könnte, war er, irgend einem Impuls folgend, nach Soho gefahren; sonst war hier alles überfüllt und wirblig wie in einem Bienenkorb, nun war der Stadtteil fast menschenleer, nur wenige Menschen stapften mühsam durch den hohen Schnee der ungeräumten Bürgersteige oder balancierten rutschend und schlitternd auf den Straßen, die meist viel glatter waren. Doch wehe, es kam ein Auto, dann musste man rasch ins Knietiefe am Straßenrand ausweichen. Die Autofahrer hatten übrigens Angst, an der Ampel stehen zu bleiben, weil das wieder anfahren oft nicht glücken wollte, sich die Räder leer durchdrehten und erst mehrfache Vorwärts und Rückwärtsmanöver das Auto wieder in Fahrt setzten,- von den wenigen Passanten neugierig, fast schadenfroh beobachtet.

Er ärgerte sich über die Kraft raubende Nichtökonomie des Gehens: wie man sie bei manchen Behinderten sieht, die sich vorwärts schrauben, pendelnd, zuckend, in einem absonderlichen Ballett, das nur durch die konsequente Wiederholung aus der anfänglichen Lächerlichkeit ins Mitleid erregende changiert. Das Gehen verlor jede Automatik, man achtete auf jeden Tritt, war ganz mit der Vorwärtsbewegung beschäftigt, die viel mehr Kraft erforderte als sonst. Fast verlor man das Ziel aus den Augen, das Gehen, nein: Nicht-Straucheln wurde zum eigentlichen Zweck.
Wenn der Alte wirklich in der Nähe war, dann hatte er wieder keine Chance gegen den erfahrenen Bergsteiger und Skifahrer. Dann kroch die Schildkröte der Gemse hinterher. Läufst du absichtlich vor mir davon? Es war zum Heulen.
Schon am Nachmittag lag dann der Schnee auf der Straße in schorfigen Wundrändern, als zweite Haut über der ersten, die nun verschmutzte, sich die Farbe graubraun zurückholte.

Er blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte den Mund geöffnet und versuchte, wie damals als Kind, die Schneeflocken zu fressen. Oder noch besser: nicht mehr nach ihnen zu schnappen, sie nur noch zu schlucken. Schlaraffenland. Aber der Mund füllte sich nicht, die Flocken waren zu dünn, zerflossen auf der Zunge, ehe er sie beißen konnte. Die meisten fielen daneben auf den Boden, wucherten als leichte Decke langsam hoch an den Schuhen.

Lautlos der Fall der Flocken. Als ob die Welt eingeschüchtert verstummt wäre, oder sie hatte endlich den Mut, zu schweigen? Auch das giftige Zischen der Autos im Regen war verschwunden, alles ging und fuhr wie auf Teppichen. Als wäre das Draußen das Drinnen, und keiner musste die Schuhe ausziehen. Ja noch schöner, man konnte Spuren ziehen, sich mit seinen Füßen in den Boden einschreiben; freilich, der eigene Schritt wurde von zahlreichen anderen überschrieben, durchgestrichen. Unleserlich bald meine Spur und wenn einer von oben zusähe, könnte er mich nicht mehr entziffern.

Er stand immer noch auf derselben Stelle, die Passanten machten gereizt einen Bogen um ihn. Aber es ist auch schön, ungelesen zu entkommen, dachte er. Bloß: wohin? Ringsum war die Welt so eng geworden, als hörte sie nicht wie sonst erst am Horizont auf, sondern als hätte man ringsum Decken gehängt, die sich immer verschoben, wenn man auf sie zutrat. Er hatte nicht mehr wie sonst das unbehagliche Gefühl, von der Erdkugel herunterzufallen, wenn er dem Horizont zu nahe käme. Ob die Flocken vielleicht doch einen Ton geben, wenn sie aufprallen? Dann ist ringsum ein vielfältiges Geräusch zu hören, wie der Applaus der Engel. Uns kann er nicht gelten, was gäbe es schon zu beklatschen an den Menschen? Er spitzte den Mund und dachte: Ich müsste alle Flocken in mich hineinziehen können, dass ein Wirbel entstünde, ein Strudel, der den Himmel leer fegte und das Blaue wieder zeigte. Er hatte das Gefühl, der Vater stehe hinter ihm.

18.
An manchen Ausgängen der U-Bahn versperrten diese unheimlichen Drehgitter den Weg; sie machten ihm Angst. Länger als bei normalen Drehtüren, die ihm auch schon sehr unbehaglich waren und die er nach Möglichkeit umging, zögerte er hier, ließ anderen den Vortritt. Diese Stangen starrenden Drehgitter glichen eisernen Jungfrauen, wie man sie aus Folterfilmen kennt. Er fürchtete, dass sie ihn nicht mehr freigeben würden. Nein, sie sahen aus wie Reusen, an denen die Wasserleichen hängen bleiben, und nun auf Fische warten. Auch sonst war ihm die U-Bahn in Manhattan nicht geheuer. Alles wirkte hier wilder, düsterer, unberechenbarer als zuhause in Berlin.

Der Bahnsteig füllte sich immer mehr mit Wartenden. Keine Durchsage, keine Leuchtschrift zur Erklärung, warum schon eine Ewigkeit keine Bahn kam. Die Leute standen stumm, keiner meckerte. Manche beugten sich an der Bahnsteigkante vor, ob was zu sehen sei, die ersten bröckelten ab, gingen weg. Alles ohne zu murren. Als wär’ es ein abgekartetes Spiel, er der einzige nicht Eingeweihte. Oder sollte er wegen seiner lächerlichen Ungeduld beschämt werden? In seinem Alter sollte er doch wirklich keine Eile mehr haben. Ob er ihn heute traf oder morgen, was spielte das noch für eine Rolle? Einen Augenblick lang durchzuckte ihn der Gedanke: und was, wenn ich ihn endlich finde und er spricht nicht mit mir?

Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig redete ein jüngerer Mann intensiv auf eine schöne Frau ein, die vor ihm auf der Bank saß, in einem Magazin las und nicht auf ihn reagierte. Er sprach freundlich mit erklärenden Gesten, versuchte sie wohl zu versöhnen. Als er damit nichts bewirkte, begann er zu singen und einige Tanzschritte anzudeuten. Er stand nicht sonderlich sicher auf seinen Beinen. Viele Strophen lang sang er auf die Frau ein, die noch immer so tat, als wäre er nicht vorhanden. Als er auf dem Bahnsteig weiter nach vorne ging, blies die junge Frau auf der Bank erleichtert die Luft heraus. Als hätte sie sie die ganze Zeit angehalten.

Als er sich zufällig umdrehte, schlüpfte gerade, nachdem er sich mehrmals umgeschaut hatte, ein junger Schwarzer blitzschnell durch das Eingangsgestänge durch und wollte auf dem überfüllten Bahnsteig untertauchen. Und schon kam ein sehr dicker Polizist aus einer Tür raus geschossen, stellte sich ihm in den Weg. Nach einem kurzen, scheinbar ruhigen Diskurs will der Polizist offenbar den Ausweis sehen, der Junge hält ihm einen hin, der Polizist aber lacht kopfschüttelnd und legt ihm Handschellen an. Zuerst an der einen Hand, durch den dicken Anorak kann der Junge die Hände nicht hinter den Rücken bekommen, es schmerzt ihn und er stöhnt. "Relax", sagt er Bulle zweimal, dann geht es. Nun muss der Junge sich auf eine Kiste setzen und der Polizist durchsucht ihn von oben bis unten. Immer in aller Öffentlichkeit. Nur ein älterer Schwarzer bleibt stehen und richtet ein paar Worte an den Polizisten, sagt dann im Weggehen, "Jesus bless you all the same". Sonst achtet niemand auf das Geschehen. Der Polizist ruft nun über seinen Sprechfunk irgendwo an und bekommt Antwort, die durch den Bahnhof scheppert. Dann füllt er ein längeres Formular aus, das er aus der Tasche zieht, endlich nimmt er den Jungen, der immer ruhig geblieben ist, in den Raum mit hinein, aus dem der herausgeschossen gekommen war.
Eine Filmszene? Ihm kam auf einmal alles wie künstlich vor. Obwohl er sich zum hundertsten Mal ermahnte, nicht immer alles auf sich zu beziehen, fühlte er sich als der Einzige, der hier nicht eingeweiht war. Als endlich eine U-Bahn kam, wartete er, bis sie abgefahren war und stieg dann wieder die dreckigen Stufen zur Straße hinauf. Er hatte das Gefühl, aus einer Gruft in eine Geisterbahn zu kommen. Und doch: Der Straßenlärm, das alberne Gegurgle der Krankenwagen, das ihn immer an den Jahrmarkt erinnert hatte, das Fiepen der rückwärts fahrenden Lastwagen, all das kam ihn nun so vertraut vor, so normal, dass es ihn beruhigte.

19.
Er hatte sich verfahren, war an der „Brookleynbrigde“ in die falsche Richtung eingestiegen, jetzt verschleppte der Bus ihn immer weiter hinein nach „Queens“. Es war schon dunkel, durch die spiegelnden Fensterscheiben konnte er nichts mehr erkennen, ohnehin kannte er die Gegend draußen nicht, auch wenn er was gesehen hätte, hätte er nicht gewusst, wo er war. Angst kroch ihm den Hals hoch, das Herz stolperte wieder so sehr, dass er es am Hals spürte.
Irgendwo stieg er einfach aus. Als der Bus sich entfernt hatte, stand er im Dunklen, umgeben von noch dunkleren Häusern, und es war beklemmend still. Er fühlte sich wie ausgesetzt.
Zurückfahren, ganz einfach; aber der Bus in die Gegenrichtung, zurück zur „Brockleynbridge“ fuhr nicht in der gleichen Straße. Im Dunklen suchte er gegen Panik ankämpfend nach der Haltestelle. Es ist spät am Abend, und wenn nun kein Bus mehr kommt? Ängstlich horchte er auf Stimmen. Ist eine Gruppe gefährlicher als ein Einzelner, der dann vielleicht lautlos an ihn herantrat? Endlich tauchte der Bus auf und fast wie auf der Flucht sprang er hinein.

Drin war es warm und hell und sicher. Er saß neben einer dicken jungen Negermami, deren zuckersüßes Kind, ein kleines Mädchen, immer wieder einschlief, obwohl sie es schon mehrmals sehr grob wach gepufft hatte. Als sie aussteigen mussten, weckte sie die Kleine mit einer Ohrfeige. Das Kind wachte verstört auf, weinte aber nicht. Ein heißer Hass gegen diese Mutter stieg in ihm auf, am liebsten hätte er sich auf sie gestürzt, sie angeschrieen. Aber schon schloss die Tür sich wieder fauchend, der Bus richtete sich aus seiner knienden Haltung auf und die beiden, Mutter und Kind, blieben im Dunkel zurück. Wie betäubt von Schmerz und Trauer sank er in sich zusammen, kämpfte mit den Tränen, bereute es bitter, dass er seine Wohnung in Berlin verlassen hatte. Was für ein trostloses Unternehmen, was für eine Idiotie, diese Jagd nach dem flüchtigen Vater, der sich immer noch entzog, wie er es zeit Lebens getan hatte. Weil er nicht anders konnte? Weil er’s nicht anders wollte? Und er selber: genauso unverändert, unbelehrbar um einen lobenden Blick bettelnd, unerfüllt um Nähe winselnd --
Erst als der Bus die „Brookleynbrigde“ überquert hatte, begann seine Verzweiflung in Müdigkeit zu einzuschmelzen. Als hätte er nun wieder festen Boden unter den Füßen. Als gäbe es noch ein gutes Ende.

20.
„Coney Island“ am Neujahrstag: schriller Sonnenschein, und immer wieder rennen ein paar Knallharte durch den hohen Schnee am Strand ins eisige Wasser hinein. Reifere Damen im dicken Pelzmantel lassen sich mit ihnen fotografieren, es gibt viel Beifall, Gelächter und Staunen und die Champagnerflasche kreist. Verblüffend in der Tat, dass die Schwimmer nach einigen Runden nicht nur siegreich lächelnd wieder aus dem Wasser steigen: ihrer Haut ist nichts anzusehen, keine Rötung, keine Gänsehaut und sie zittern auch keine Spur.
Dahinter vor südlich blauem Himmel die Szenerie des Rummels mit dem Riesenrad, dem „Cyclone“, einer Art Superachterbahn, über den zahlreichen Buden. Heute war alles geschlossen, überall knurrten gewaltige „attack dogs“ hinter den Zäunen. In einer Art Garage ein wundervoll altes Karussell mit Holzpferden, die Orgel quäkte, aber die möglichen Mitfahrerkinder waren noch unten am Strand, um den Baderummel zu erleben.

Das war ein Spektakel, da konnte man sicher sein, dass der Alte dabei war. Freilich wie immer als Zaungast, als lebhafter Zuschauer und Kommentator. Aktiv mitgemacht hätte er natürlich auch hier nicht. Er war wasserscheu und so richtig schwimmen konnte er eigentlich nicht. Der Sohn schon, auch war der im Gegensatz zum Alten für sein Leben gern im Wasser gewesen. Gewesen. Seit Jahren war er nicht mehr öffentlich in Badehose am Strand herumgelaufen. Es war sein Bauch, dessen er sich schämte. Denn anders als der Alte war er schon früh rundlich geworden.
Er hätte es wunderbar gefunden, wenn man seinem Kopf durch irgendeine Schwellung angesehen hätte, wie viel er da drin hatte, wie viel er rein gesteckt hatte. Der Bauch war ja nicht angefüllt, er war aufgequollene Hülle, fett, nein schlaff. Er ging halt aus dem Leim, wie alle alten Männer. Das war es. Er dachte an Fred Astair, der war sein Leitbild. So schlank, nein, so körperlos, so mühelos und flüssig in seinen Bewegungen und so deutlich in den messerscharfen Steppgeräuschen. Er beschloss, steppen zu lernen.

21.
Im „pick me up“ stellen zwei Männer ihre Kaffeetassen auf einen der winzigen runden, immer wackeligen Tische; beim Hinsetzen stoßen sie an den Tisch und verschütten Kaffee. Der eine holt Servietten und putzt den Tisch ab. Als er die Servietten weggebracht hat und wieder Platz nimmt, rückt der andere seinen Stuhl näher ran und schüttet erneut Kaffee aus, reichlich. Der andere rennt noch mal los und holt neue Servietten, während der am Tisch seelenruhig trinkt. Er zeigt keinerlei Bewegung, obwohl er diesmal schuld ist, im Gegensatz zum anderen, der verlegen lacht.
Ist es Arroganz, grübelte er, oder bin ich ein Jammerlappen, dass ich immer zuerst denke, ich bin schuld. Er zog rasch den Stuhl mit seinem Mantel weg, da der Kaffee drohte, herunter zu tropfen, doch auch darauf reagierte der am Tisch Sitzende nicht.
Er hatte so fasziniert, auch verwirrt auf das Tun der Männer gestarrt, dass es denen schließlich auffiel. Verlegen grabschte er seine Jacke und die unzusammengelegte Zeitung und tat als ob er gehen wolle. Ging auch einige Schritte, wie unentschlossen Richtung Ausgang, kehrte dann um und ließ sich im Nebenzimmer an einem leeren Tisch am Fenster nieder.
Sogleich bemerkte er das junge Mädchen, das ihm schon wiederholt aufgefallen war. Immer wenn er sie wahrnahm, machte es einen kleinen Klick in seinem Herzen. Wie es geschieht, wenn man jemanden sieht, den man kennt, mit dem man eine, und sei‘s noch so kleine Geschichte hat. Das war ihm aber bei ihr schon beim allerersten Mal so passiert.
.
Sie war extrem schlank, das Haar glatt und pedantisch zurückgekämmt. Sie rauchte sehr viel, in ihrem winzigen Aschenbecher lagen schon fast ein Dutzend Kippen; und sie schrieb. Tagebuch vermutlich. Warum erschien sie ihm so seltsam anziehend? Übermäßig schön war sie eigentlich nicht. Er würde gern mit ihr ins Gespräch kommen, wusste aber nicht wie, und sie ermutigte ihn keineswegs, obwohl er immer wieder in ihre Richtung schaute. Er würde sie gern fragen, ob sie Tagebuch schreibe oder Gedichte, aber das wäre ja nur ein Versuch, mit ihr anzubandeln.
Ob sie traurig ist, einsam? Was für eine Geschichte könnte man sich für sie ausdenken? Dass sie im Café sitzt und auf jemanden wartet, mit dem sie nicht verabredet ist. Sie hat ihn einmal hier getroffen, sie haben sich angesehen und sofort verständigt, er ist vielleicht nach einem langen Plauderabend hier im Café mit ihr nachhause gegangen, hat sich aber am nächsten Morgen, als er gegangen war, nie wieder bei ihr gemeldet.
Nein, das ist zu kitschig. Sie hat ihn nicht mehr angerufen nach dieser Nacht und das hat er als Zeichen genommen, dass sie nichts mehr von ihm wissen will. Auch Quatsch. Oder ist sie eine, die lieber schreibt, sehnsüchtig und auch wehleidig, aber im Gespräch kratzbürstig ist, jedenfalls nicht einladend. So passieren die wichtigen Sachen für sie auf dem Papier ihres Tagebuchs. Schon wieder viel zu kitschig. Altmännerphantasien. Als ob jemand, der schreibt und deshalb nicht nur handelnd und redend durchs Leben stürmt schon gleich einsam ist. Hier im Café schreiben fast alle, auf einen Notizblock oder in ein Buch. Vorhin, beim Rausgehen, rief ihr der Kellner zu: „Bis nachher“. Sitzt sie öfter hier? Hat sie vor, Sylvester hier zu feiern, oder treffen sie sich anderswo?

Schön wäre, wenn sie sich jetzt genauso mit mir beschäftigte wie ich mit ihr. Was sie dann wohl über mich schriebe? Ich bin sicher nichts weiter als ein alter Mann für sie. Eine Figur im Unterhaltungstheater des Cafés, kein Individuum. Sie legt immer wieder das Buch aus der Hand, schiebt es auf dem Tischchen ein wenig von sich, legt den Kugelschreiber drauf; und holt es sich dann wieder, öffnet und schreibt. Auch scheint sie immer wieder ältere Texte zu korrigieren, an ihnen weiter zu schreiben.
Ob sie eine eigene Wohnung hat oder mit jemandem zusammen? Vielleicht darf sie zuhause nicht rauchen, nein, das könnte sie bestimmt nicht aushalten, soviel, wie sie hier raucht, das kann man nicht einmal machen und dann wieder bleiben lassen.
Ihm fiel ein, dass es jetzt in Deutschland schon auf Mitternacht zuging. Zu haus schwammen sie jetzt durch ihre dumpfen Träume, während es das Gefühl hatte, in einem Traum zu sitzen.
Jetzt holte sie ihr handy raus; nun macht sie bestimmt Termine für heute Nacht. Ihr bislang verschlossenes Gesicht hellte sich auf, sie erhob sich und noch im Telefonieren ging sie hinaus. Er wartete ein wenig, damit sie nicht den Eindruck bekam, er würde sie verfolgen, dann stand auch er auf und ging hinaus. Obwohl er nach beiden Seiten die Straße hinunterblickte, konnte er sie nirgends mehr sehen.

22.
Im „Tompkinspark“ beobachtet er zwei Männer, die im eiskalten Morgenlicht, das scharf wie ein Bühnenscheinwerfer die Szene beleuchtet, Tai Chi-Übungen zelebrieren; so synchron wie ein Körper, ohne sich anzuschauen. Das berührt ihn tief. Er fühlt sich plötzlich allein, weiß, dass sein Spiegelbild, dem er am Morgen teils mitleidige, teils gehässige Blicke zuwirft, kein Gesprächspartner ist, mit dem man etwas hinzugewönne. Ganz im eigenen Körper und doch nicht allein; bezogen auf den anderen, und doch nicht wie im Gestänge eines Mechanismus mit ihm verschweißt. Das Zeitlupenlangsame der Bewegung der beiden Männer erschien ihm wie ein schwereloses Auftauchen aus einer Not, Ballett einer gemeinsamen Selbstbefreiung.
Er war gebannt stehen geblieben, ein wenig geniert, unsicher, ob es die Männer nicht verdrießen würde, wenn er so schamlos glotzte. Aber er konnte seinen Blick nicht von ihnen reißen. Jetzt entstiegen die beiden Männer ihren schwebenden Bewegungen, gingen einige Schritte zur Bank, wo sie ihre Aktentaschen abgelegt hatten, klemmten sie unter ihren Arm, nickten sich freundlich zu und gingen jeder in einer anderen Richtung davon. Er sah ihnen nach und fühlte sich verlassen, als wären sie von ihm weggegangen.

Er sah sich ratlos um und hatte keine Idee, wohin er sich wenden sollte. Vielleicht irrten er und der Alte durch diese Stadt im gleichen Abstand, sogar in die gleiche Richtung und kamen sich natürlich so niemals näher. Im Märchen hatten Liebende einen Zauberknochen oder sonst einen magischen Gegenstand, wussten immer, wie es dem anderen erging, wann er in Not war. Er hatte nichts in Händen. Keinen Brief seines Vaters, dessen Tinte sich in Tränen auflösen, keinen Schlüssel, der rosten, keine Kette, die reißen würde. Das Band der Erinnerung kam ihm nun so dünn vor, dehnbar bis zur Haltlosigkeit, es war keine Angel, mit der man den Alten heranholen hätte können.

Er bemerkte, dass er immer noch wie angewurzelt auf der selben Stelle stand, wo er die beiden Männer beobachtet hatte. Nun fiel ihm erst auf, dass das widerwärtige Hundegekläff, das er innerlich schon einige Zeit registriert hatte, von der anderen Hälfte des Parks, dem er den Rücken zugewandt hatte, herkam. Er rieb sich die kalt gewordenen Hände und trat näher an dieses Gelände heran. „Dog-run“ stand auf einer Tafel. Der umzäunte Bezirk des Hundeauslaufs war graslos, ohne Winterlaub, uneben wie eine verlassene Baustelle. Wie trostlos, dachte er spontan. Mitten im sonst anheimelnden Park wirkte der eingezäunte Bereich fremd in seiner Unwirtlichkeit wie Niemandsland. Die Hunde schien das nicht zu stören, sie waren wohl froh, nach der sturen Leinenexistenz mal ein wenig unangeschnürt rennen zu dürfen. Die Tiere schnuffelten aneinander am Hintern oder den Geschlechtsteilen, bellten wohl manchmal, liefen dann ein wenig herum, aber mit wenig Begeisterung, wie schien. Es war den verwöhnten Zentralheizungskreaturen wohl zu kalt. Die Hundehalter kamen zuweilen ins Gespräch, es wirkte aber sachlich, fast gelangweilt. Vermutlich die ewig gleichen Standardsätze über ihre Tiere. Immer wieder wandten sie sich jedoch zärtlich ihren Tieren zu, redeten mit ihnen, streichelten sie, lachten stolz oder glücklich wie Eltern über die vorgeblichen Großtaten ihrer Babies auf dem Kinderspielplatz. Viele Hunde trugen Kleider, Pullis oder ähnliche Umhüllungen.
Ich bin jetzt ganz allein, dachte er. Aber ich möchte nicht um alles in der Welt einen Hund anlabern und er gibt keine Antwort.

23.
Nach einigem Kampf mit der Fernbedienung schaffte er es, in den Sendeanstalten zumindest nach vorne zu blättern, allerdings nicht zurück, wenn er mal zu schnell gedrückt hatte und umkehren wollte. Er geriet in eine Art Show, in der offenbar Leute sich gegenseitig vor der Kamera höchst erregt abkanzelten. Sie sprachen in einem verquollenen slang, von dem er praktisch kein Wort verstand, trotzdem ließ der Ablauf keinen Zweifel. Bei einem der zahlreichen Werbeblocks erfuhr er, dass er in der „Jerry Springer-show“ gelandet war.

Schockierend, ja ekelig dieses öffentliche Schlachten von Menschen. Menschen? Da wurden offenbar Monster vorgeführt, jedenfalls rettungslose Außenseiter. Entscheidend zum Grauen trug aber das Publikum bei, das - auf Kommando? - brüllte, klatschte, skandierte oder mit Tiefschlagzwischenfragen die Akteure auf der Bühne verhöhnte.

Ein junger Schwarzer, eher hässlich, irgendwie verstockt, unverkennbar schwul, wird vorgestellt, Hector. Er beklagt sich über seinen Liebhaber, einen Friseur, weil der ihn betrogen habe. Den dann die Camera life in seinem Laden besucht, nein: überfällt, wo der verlassene Junge, der mitgekommen war, ihm heftige Vorwürfe macht. Die Kunden im Salon mischen sich ein. Aus dem Lifediskurs sind aber - durch Blenden sichtbar gemacht - offenbar die "heißesten" Streitpassagen zusammen geschnitten. Am Ende alles inszeniert?

Es geht weiter. Nun kommt dieser treulose Liebhaber ins Fernsehstudio, auch der Zankapfel, - ein „Transi“ - , und alle miteinander streiten sie keifend gegeneinander, immer wieder in Gewalttätigtätigkeiten ausbrechend. Sie stürzen auf einander, jagen sich durchs Studio, so dass muskulöse Ordnungsmänner sie immer wieder trennen müssen. Der untreue Friseur-Liebhaber fleht den Jungen an, ihm zu verzeihen, bittet ihn: “marry me“, steckt ihn einen Ring an, den der wiederum auf den Boden schmeißt. Das Publikum gröhlt. Es ist abgeschmackt über die Schmerzgrenze hinaus.

Zweite Szene: drei unglaublich fette, blutjunge Mädchen zanken sich, ebenfalls handgreiflich, zeigen ihren Hintern, heben das Hemd über ihrem wulstigen Bauch. All ihre Bewegungen sind schrillste Verunglimpfung. Gröhlen im Publikum, versteht sich. Wieder geht es um „betrayed love“.

Was ist das? Schadenfreude der angeblich Normalen über „freaks“? Die übliche Schaulust am Perversen? Aufgeheizte Zirkusstimmung wie bei den Ringkämpfern? Das hemmungslose Streiten, wo man endlich mal die Sau rauslassen darf? Die Camera, also Öffentlichkeit, ist keine Bremse mehr für Intimes, vielmehr das Gegenteil. Auch der Moderator bremst, "moderiert" nicht mehr, er heizt die Enthemmung erst noch an. Warum bloß gehen diese Leute auf die Bühne? Fürs Geld? Um ins Fernsehen zu kommen? Um ihrem "Gegner" öffentlich eins auszuwischen? Wo kommen diese Leute her? Wohl nicht aus „up-town“...

Wie bedroht von einem Wespenschwarm, der nun gleich auch über ihn herfallen würde, schaltete er das Gerät aus. Wie harmlos war dagegen das tägliche Rumzanken des Alten mit seiner Ehefrau, wer nun wieder wessen Zündhölzer verschlampt habe. Als Kind freilich war ihm dieses unausbleibliche, tägliche Ritual die Hölle. Das festgeschriebene Drehbuch, die immer gleichen Abläufe, ja selbst die Dialoge schienen auswendig gelernt. Kein Heulen der Kinder, das Publikum damals, konnte da was ausrichten. Zitternd warteten sie auf den bekannten Schlussakzent der zugeschmissenen Tür. Dann ging der Alte polternd die Treppe hinunter und die Mutter verbrauchte ihre Restwut, indem sie die weinenden Kinder ruhig fauchte.

Er wusste selbst nicht, warum diese Fernsehshow - selbst wenn alles nur abgekartet war - sich immer weiter in ihn hineinfraß. War denn seine Reise nach New York nicht selber eine Posse, pointenloses Kasperltheater eines alten Manns, über den sich - wer weiß wer - bald kaputtlachen wird. Wie schnell wird man zur kurzlebigen Gaudi für Gelangweilte, die froh sind, wenn sie nicht selber auf die Bühne gezerrt werden.
Er hatte immer gedacht, dass es ihm nicht wichtig war, was andere von ihm hielten; das Ergebnis war dann wohl, dass auch sie nicht viel von ihm hielten.

24.
Auf der „Dreizehnten“ spürte er einen seltsamen Sog; es war, als ob die Passanten zu einer Nebenstraße, wenige Blocks weiter, gestrudelt würden. Es schien dort heller zu sein. Vielleicht brannte es? Es ließ sich in diese Strömung gleiten und landete nach kurzem in einer Menschentraube, die durch Nachdrängende rasch dicker wurde, anschwoll wie eine gestaute Überschwemmung. Vor und vor allem in einer Kirche wurde ein Film gedreht. Zahlreiche Schaulustige standen herum, noch mehr Leute, die offenbar zum „team“ gehörten, rannten geschäftig hin und her. Sie hatten grellfarbene Schirmmützen auf, Ohrenstöpsel und vorm Mund kleine Mikrophone. Riesige Scheinwerfer, groß wie Kühlschränke hingen an Krans, davor Diffuser, sie waren auf die Kirchenfenster gerichtet. Es roch nach angebranntem Gummi. Zahlreiche, riesige Lastwagen mit dem Equipment und einige Lichtmaschinen standen rund um die Kirche. In der Dunkelheit sah das grelle Licht kalt aus, nicht nach Sonne. Einige Schauspieler standen frierend vor dem Kirchenportal und rauchten hastig eine Zigarette, als hätten sie nicht viel Zeit, verschwanden dann wieder hinein, als hätte man sie gerufen.

Hier wäre der Alte sicher stehen geblieben. Für solche "action" hatte er ein untrügliches Gespür entwickelt. Vermutlich roch er wie eine Fliege den Braten meilenweit.
Woher bloß deine Freude an Orten, an Situationen, wo was los war? Weil im eigenen Leben durchaus nichts los war? Die geizigen Eltern hatten ihn, trotz der nachhaltigen Ermunterungen der Lehrer nicht studieren lassen. Da war er wie sein Vater Schlosser geworden, später Lokomotivführer. Immer voll Ehrgeiz, immer nicht genug gefordert. Er engagierte sich in der Gewerkschaft,- und er lief auf der Straßen herum, immer auf der Suche nach einer Szene, wo er schauen konnte, wo er sich rasch einen Gesprächspartner schnappte. Heiter, witzig, aber unverbindlich. Er nannte das "Spassettl machen". Da hatte er seinen kleinen Auftritt. Da war er in seinem Element.

Die grellen Scheinwerfer blendeten und machten das Dunkel zugleich dicker. Wenn man den Blick weg von der beleuchteten Szene ins Publikum richtete, bestand die nur aus einer summenden, wabernden Masse. Da war kein Einzelner findbar. Wenn er den Alten ausrufen lassen könnte, wie am Flughafen,- das wäre dem Alten sicher peinlich. Bestimmt würde er sich da sogleich verdrücken, melden würde er sich nicht. So kam man jedenfalls nicht an ihn heran. Wie dann?

25.
Die Telefonzellen auf den Strassen, silbern, mit einem aus Löchern eingestanzten Telefonhörer in den Wänden, immer übersät von kleinen Werbezetteln, die schon vergilbt waren und unleserlich. Daneben meist die schwarzen Mülltüten. Er spielte mit der Versuchung, zuhause anzurufen. Bei wem? Sein bester Freund hatte ihn verworfen. Ohne ihm mitzuteilen, was gegen ihn vorlag, ohne Möglichkeit der Stellungnahme. Er sei ihm zu oberflächlich, erfuhr er über einen Dritten. War es, weil er keinen Sinn für dessen Verschwörungstheorien hatte?

Er wählte seine eigene Nummer. Er hörte deutlich, wie das Telefon durch die leere Wohnung auf der anderen Seite des Ozeans schrillte. Wie seltsam. Nachbarn konnten es hören. Als unvermutet der Anrufbeantworter ansprang, seine eigene Stimme um eine Nachricht bat, hängte er vor Schreck ein, als sei er bei einem Klingelstreich ertappt worden. Dann musste er selber über sich lachen. Er wählte die Nummer noch einmal, nun war sie besetzt, vermutlich lief der Anrufbeantworter noch, denn wer sollte bei ihm anrufen. Der Alte jedenfalls nicht. Mutter hatte ihm immer Groschen in die Geldbörse gesteckt, damit er anrufen könne, falls er sich zum Essen verspäte. Er hat nie angerufen, er hatte Schiss vor dem Gerät, kam damit nicht klar. Kam sich blöd vor, auf der Straße zu telefonieren und was er noch alles für Ausreden an den Haaren herbeizog. Ohnehin kamst du immer zu spät zum Essen. Ach, wie ich auch.

26.
Als er erwachte, hatte sich der Regen vertröpfelt, der Himmel war sogar aufgerissen und zeigte sich hinter dem dumpfen Braun der Hochhäuser rosig mit warmfarbigen Wolken. Im Himmel blitzten Flugzeuge golden auf. Der Temperaturwechsel, es war sehr warm geworden, griff sein Herz an. Es hopste unregelmäßig und stolperte. Er hatte aufgehört, die Herztabletten zu nehmen.
Drunten auf der Straße freute er sich über die Lichtstimmung. Noch glänzte das Pflaster regennass und spiegelte die zahlreichen bunten Neonleuchten der Geschäfte.

Das Café „pick me up“ war sehr voll. Außerdem wummerte heute laute Technomusik. Er wartete ein wenig unschlüssig auf einen freien Platz am Fenster, holte sich einen Kaffee, diesmal einen normalen amerikanischen, der ihm nicht sonderlich gut schmeckte, der aber sehr schwach war und setzte sich, als am Fenster endlich ein Tisch frei wurde, rasch dorthin.
Wieder saßen einige Unverwüstliche draußen. Er sah die Außenwelt verzaubert durch die Spiegelung der Scheibe; die sich drehenden Propeller an der verrauchten Decke und die zahlreichen kleinen Weihnachtslichterchen auf der Kuchentheke wirkten wie ein Vorhang vorm Alltag. Vorm Fenster standen ein roter und ein grüner Holzstuhl vor dem schwarzen runden Metalltischchen. Davor die Balustrade zum Bürgersteig. Auf der anderen Straßenseite, im „Thomkinspark“, war ein Tannenbaum mit kleinen Lämpchen umkleidet.
Die Bedienung stellte im Café kleine Gläser mit brennenden Kerzen auf jeden Tisch und dimmte das Licht fast bis zur Dunkelheit. Und immer noch dumpfte die Musik im endlosen Technoschlag. Ohne dass er hinüberblickte, wusste er: in Nebenraum saß wieder die junge Frau, rauchte, schrieb, rauchte.

Nachdenklich fragte er sich und seltsam ruhig: will ich den Alten wirklich noch treffen? Ein Taxi wendete auf der Straße; nicht gerade ungewöhnlich: der Fahrgast hat es sich halt anders überlegt. Will er nun oder will er nun nicht mehr? Er muss, er wird den Alten finden. Wo? Immer geradeaus bringt jedenfalls nichts. Mit System suchen? Dem Zufall vertrauen? Der Alte war kein Entdecker, er ging gern seine vertrauten Wege, man müsste nur erst die Fahrspur entdecken, der Rest war ein Kinderspiel. Wenn man von oben die Rillen sähe, die man in seine Stadt einkratzt, Tag für Tag: sehr wenige nur. Große Teile einer Stadt, ja der Hauptteil bleiben unberührt, gehören nicht zum Revier. Wenn die Straßen seine Spuren annähme, wie die Rillen auf antiken Straßen?

27.
Am Postamt herrscht offenbar sehr strenges „lining“. Als er an den Schalter herantritt, ehe er dazu aufgefordert wird („next, please“); der Beamte hat sich kurz umgedreht, weil hinter ihm ein Kollege was wissen will, wird er äußerst streng, ja misstrauisch, wie von einem Lehrer gefragt, ob er in der „line“ gewesen war und erst als die anderen Wartenden es bestätigen, ihm gleichsam ein Alibi geben, bedient der Mann ihn. Er fühlt sich wie ein Schulkind abgekanzelt, wird rot über den Rüffel, traut sich aber nicht zu, mit seinem schwachen Englisch mit dem Pedanten hinter der Glasscheibe zu zanken. Oweih, da hätte der Alte aber ein Fass aufgemacht!

In der Metro raucht ein Junge einen „joint“; ziemlich sofort nölt der Fahrer über Lautsprecher: "to whom who is smokin’: put out the cigaret!", und dann kommt er raus und fragt, ob hier einer rauche. Die Frauen halten sich die Nase zu und deuten mit den Fingern auf den Bösewicht. Der Uniformierte sagt streng "put it out" und der Schwarze tut es ohne Widerrede.

Im Supermarkt, der Tag und Nacht geöffnet hat, verspürt er eine steigende Gereiztheit. Es ist in den Gängen enger als in Deutschland, fortwährend muss man zur Seite oder zurücktreten, weil einer vorbei will mit seinem Wagen, dauernd nervt ein aufscheuchendes "sküzmi". Er kommt nicht dazu, eine Packung zu Ende zu studieren, den Text zu lesen, ja überhaupt erst einmal herauszubekommen, was drin ist. Als Fremder kann er nicht einfach zugreifen. Selbst vor der Milchtheke steht er ganz verwirrt. Da gibt es „low-fat“ und „no-fat“ und „almost no fat“ und noch endlose weitere Differenzierungen, die ihn völlig handlungsunfähig machen. Verdrossen wirft er die Milch zurück in das Fach und schon spürt er die tadelnden Blicke in seinem Rücken. Er würde gern etwas auf den Boden fallen lassen, aber es fehlt ihm der Mut.

28.
Auf der Fähre von Manhattan nach „Staten Island“ hinüber weht ein unvorstellbar scharfer, durch und durch dringender Eiswind, den auch die grelle Sonne nicht mildert. Die Tür zur Reeling wird fortwährend aufgerissen und nur halb wieder zugezogen, weil die Touristen aus und ein rennen, um Fotos zu knipsen, vor allem, als die Freiheitsstatue auftaucht. Die Kälte, wie aus dem Hinterhalt über ihn herfallend, dringt fast mühelos durch die Kleider, über die Haut bis in die Knochen.
Schon auf der Fahrt mit der U-Bahn, nach dem langen Warten auf dem eiskalten Bahnsteig in „Howard Beach“, hatte sie sich bei jedem Halt durch die geöffneten Türen herein gequetscht, wie eine Zeitlupenbrandung. Schlossen sich die Türen, wurde sie nur kurzfristig mit Wärme verdünnt.

Abends in der U-Bahn, er muss endlos warten, bis die L in der „8 th Ave“ endlich losfährt. Es ist bitterer Alkoholgeruch in der Luft. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, die Tochter sehr schön und westlich, sie sprechen ivrit. Zwei müde und angetrunkene Männer, ordinäre Sprache, irischer Akzent, setzen sich demonstrativ den Frauen gegenüber; der eine pöbelt die junge Jüdin an, indem er sie mit deutschen Brocken anredet. Die Frauen reagieren nicht darauf.

Auf der „Delauneystreet“ liegt ein Mann auf dem Bürgersteig. Er hat rote, mit einem Muster bestickte Fingerhandschuhe an, eine Mütze tief in die Stirn gezogen, er liegt auf der Seite. Mit einer Hand hält er sich hin und wieder die Nase zu. Keiner beachtet ihn, keiner bliebt stehen. Manchmal hebt er einen Arm und fuchtelt damit ein wenig. Dann liegt er wieder bewegungslos in der Wintersonne. Er allein bleibt in einiger Entfernung stehen und schaut ihm verstohlen zu. Entsetzt kämpft er mit der Vorstellung, dass er an seiner Stelle dort liege.

Die freundliche junge Mutter im Café. Ihrem Kind hat sie Schuhe und Socken ausgezogen und nun reibt die Mutter die nackten Füßchen warm. Sie ist sehr freundlich zu dem Kind und der Kleine genießt es, seine Füße in ihrem Schoß und den wärmenden Händen. Sie plauscht aufgeräumt mit einem Mann, der neben ihr am schmalen Tisch sitzt. Manchmal winkt der Kleine kurz mit seinem Fuß, wenn die Mutter eine Pause macht und dann setzt sie sogleich das Reiben fort. Einmal wendet sie sich ihm zu und salutiert grinsend militärisch mit der Hand am Kopf, als wolle sie sagen: „Yes, Sir!“

Im Bus wird eine behinderte Frau auf ihrem Rollstuhl mit einer Hebebühne hereingeholt; als sie endlich drin ist, kann sie überhaupt nicht lenken, kommt ewig nicht in ihre Ecke und dann klemmt die Automatiktür und sie muss wieder raus. Nach endlosen Versuchen schafft sie es in den nächsten Bus, aber da ist schon ein anderer Behinderter drin und nun wird es noch enger, mit ihren schlechten Fahrkünsten. Vielleicht sitzt sie erst seit kurzem im Rollstuhl?

Die seltsam veralteten, wie mit alter Farbe bemalten Schulbusse mit jüdischer Aufschrift, die aus uralten Filmen zu stammen scheinen.

Die Eichhörnchen vorm Haus scheinen ihn langsam als geizig zu kennen. Sie rennen nicht mehr so zielstrebig auf ihn zu, wenn er aus dem Haus tritt.

29.
Als er um einen Häuserblock bog, schoss ihm die stechend scharfe Gegenlichtsonne in die Augen, wie ein Suchscheinwerfer der Grenzkontrolle, seinetwegen angeschaltet. Und nun stand er in der schier endlosen Lichtschneise, wie ertappt. Ist das die Begegnung mit dem Heiligen, das man nicht anschauen darf, wenn man nicht Schaden leiden will? Magisches Licht, von dem auch die Mystiker berichten. Lichtdusche, doch ob sie reinigt?
Die Frauen trugen nun einen goldenen Haarkranz um den Kopf, einen Heiligenschein; alle Körper wurden zur Kontur reduziert, die ihre wuchtige Fleischlichkeit veredelte. Das Licht kam von Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schattenfiguren zuckten auf ihn zu, den eigenen sah er nicht, ahnte ihn aber hinter sich. Jetzt sich rasch umdrehen und ihm nachrennen: ins Reich der Schatten hinab, - was mag das meinen? Dann müsste dort ja gleißendes Licht herrschen. Oder haben sich die Schatten dort von ihren Körpern losgelöst, huschen sie nun am Boden entlang, wie es ihnen behagt, nicht länger Affen ihrer Körper?
Er gab sich einen Ruck, drehte sich auf dem Absatz um und das magische Licht verlöschte. Nun spürte er den Druck der Sonne auf dem Rücken, sah nun auch seinen eigenen Schatten vor sich herhampeln und dachte, halb schuld bewusst, halb wehleidig: was wohl der Alte zu solch verquasten Gedanken sagen würde?



30.
An einer Ladentür stand, mit zügiger Hand geschrieben: „Jesus liebt dich nicht nur einmal, er liebt dich immer.“
Wie fremd, ja völlig bedeutungslos ihm dieser Jesus geworden ist, dem er sich eine Zeitlang so nah gefühlt hatte. Damals war er in lange Dialoge mit ihm verwickelt, fühlte sich von ihm zur Kenntnis genommen. All das war ihm jetzt gänzlich unverständlich. Da kann einer genauso gut Tiere lieben, dachte er, seinen Hund, seine Katze; er kann in Erinnerungen an einen ehemaligen Partner versinken. Aber dieser Dialog ins Nichts hinein, mit dem albernen Blick nach oben - seltsamerweise wähnt man Gott nie hinter oder unter sich - mit wem redet man so intim? Vor wem macht man sich so klein, so abhängig? Dieses Betteln um Hilfe, dieses Vertrauen auf Hilfe, dieses Hinnehmen des Schweigens. Was für ein wirres Zeug die Konstruktion der Dreifaltigkeit, der Jungfrauenempfängnis und -Geburt, die Auferstehung. Und die Leiderei, die uns dämpfen soll und anhalten, auch zu leiden.
Zum Glück bin ich noch keiner geworden, dachte er grimmig, der mit sich selber babbelt.

Er wäre gern aus purer Neugier zu einer der vielen Wahrsagerinnen gegangen, die in Kellerwohnungen lauernd mit großen, hand geschriebenen Zetteln ihre Dienste anboten, aber er hatte Angst, sie nicht zu verstehen, ihr spanisches Englisch war ihm sicher noch verschlossener als das amerikanische.

31.
Wie ein verlandender See konnte er nichts mehr loswerden, wenn er nach Hause kam. Das Gift sowenig wie die Freude. Keiner freute sich auf ihn, keiner wärmte ihn mit Nähe, niemand sättigte ihn mit Aufmerksamkeit. Die Wohnung war wie ein zugefrorner See. War das nun besser als früher das Gegenteil, wo sich tausend Fangarme der Geschwätzigkeit an ihm festkrallten?

32.
Beinahe wäre er an ihr vorbeigelaufen, dann sah er sie doch noch; sie aber bemerkte ihn nicht. Wie auch? Sie schrieb ja immer, vermutlich hatte sie ihn noch gar nicht zur Kenntnis genommen, so oft sie auch zusammen im gleichen Raum gesessen waren. Das „pick me up“ war ja immer rammelvoll.
Offenbar bleibt sie der „lower east side“ treu wie ich, dachte er. Auch sie hatte sich von der kräftigen Wintersonne verführen lassen und saß auf der Straße, mit Mantel und Schal, ach, und einem Handschuh an der linken Hand, Sie schrieb nicht, sondern hielt ihr schmales Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Leise, - wozu bloß? auf der Straße war noch genug Lärm -, rückte er einen Stuhl zurecht und setzte sich im Strassen Café neben sie. Freilich ein wenig hinter sie; er sah nun ihre Haare hinter ihrem Ohr in der Sonne leuchten. Er hätte gerne eine Tochter gehabt. Er hätte - da gab sie sich einen Ruck, legte den Füller, den sie in der Hand ohne Handschuhe gehalten hatte, quer über ihr Tagebuch und stand auf. Er hob rasch seine Zeitung vors Gesicht und kam sich schrecklich albern vor. Sie ging an ihm vorbei hinein ins Café, ohne ihn im Geringsten zu beachten. Jetzt erst bemerkte er, dass die Bedienung vor ihm stand und schon zum zweiten Mal fragte, was er haben wolle. Er schüttelte den Kopf und wiederholte seine Ablehnung mit einer fahrigen Handbewegung. Dann stand er rasch auf und griff nach seinem Rucksack. Die Bedienung wandte sich gleichgütig ab und ging wieder hinein. Mit einer raschen Bewegung griff er in die Brusttasche seiner Jacke und ohne sich umzusehen, wie im Vorbeigehen, schob er flink den Briefumschlag mit seinen Ersparnissen in das Tagebuch des Mädchens. Dann überquerte er zügig die Straße und bog um die Ecke, ohne sich noch einmal umzusehen. Plötzlich spürte er, der Alte ging hinter ihm her. Er musste nur langsamer gehen, stehen bleiben, dann würde er ihm auf die Schulter klopfen und in seinem wundervollen Bass sagen: Na Junge? Nein, diesmal würde er sagen: Mein lieber Sohn, du rennst doch nicht vor mir davon? Und er musste sich nur umdrehen und diesmal würde der Alte ihn zuerst in die Arme nehmen.
Er hörte, nein spürte, wie sein Herz klopfte und ein leichter Schwindel in seinen Ohren sauste. Wie man eine wundervolle Überraschung auskostend ein Geschenk noch nicht sofort auswickelt, so ging er zügig weiter in die Sonne hinein.

.......................................................................................