Sonntag, 22. Mai 2011

33.
Ich weiß nicht, warum sie mich nicht weggeschickt haben. Zu stark mit sich selbst beschäftigt? Oder großzügig und furchtlos gegen „Andersgläubige“. Es war allerdings auch schon recht dämmrig, nein, daran lag’s wohl nicht. Eher daran, dass jeder mit sich beschäftigt schien. Es war zwar eine Gruppe, ich denke: so gut zwei Dutzend? Aber eher als eine Schar von Leuten. Frauen, Männer, auch jüngere, fast noch Kinder, die sich auf einer Waldlichtung versammelt hatten. Als ich zufällig dazu stieß – ich hatte noch einen Abendspaziergang am Alten See gemacht und wollte durch das Wäldchen einen Abkürzer nehmen - war mir als erstes aufgefallen, dass keiner mit keinem sprach. Viele saßen auf dem moosigen Boden, lehnten sich an Bäume; einige gingen ruhig hin und her, offenbar warteten alle. Worauf? Ich traute mich nicht, jemanden zu fragen. Ich hatte zwar das ein wenig peinliche Gefühl, dass ich nicht dazugehörte aber zugleich den Eindruck, dass mich keiner fortschicken würde. Das, worauf sie warteten, mussten von oben kommen, denn sie schauten immer wieder einmal prüfend in den sternklaren Nachthimmel hinauf. Da war aber auch nichts zu sehen.

Es war eine schöne Nacht. Warm, windstill, es roch stark nach Wald, die Zikaden zirpten und die Ruhe der Menschen strahlte eine seltsame Kraft aus. Nein, etwas Feierliches, aber ohne Pathos, ohne Zwang oder Kleinlichkeit. Ich könnte nicht erklären warum, aber ich empfand die Situation als befreiend. Und dann kam Unruhe in die Gruppe. Die Sitzenden erhoben sich, die Umhergehenden blieben stehen, die an Bäume Gelehnten lösten sich und alle stellten sich breitbeinig auf ihre Füße. Seltsamerweise schaute nun niemand mehr zum Himmel hinauf aber ich hatte den Eindruck, dass alle nach wie vor nach oben konzentriert waren.
Und dann ging der Mond auf. Vollmond. Und was für einer! Verwirrend groß, sehr steinbleich und so hell, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Ich muss zugeben, dass ich Mondnächte kaum je draußen im Wald verbringe, aber das machte bestimmt nur einen Teil des Unheimlichen der Szene aus. Wie soll ich sagen: das Inständige, womit die Leute sich auf den Mond konzentrierte, verwirrte mich. Einige hielten die Hände, die Handflächen ausgestreckt, als wollten sie was empfangen. Andere richteten das Gesicht steil noch oben, aber mit geschlossenen Augen. Manche standen auch nur so da, wie einer ergeben im Regen steht. Ein paar Frauen hatten ihre Händen über den Kopf gestreckt, als wollten sie nach oben greifen. Jetzt erkannte ich auch, dass sie nicht wahllos herumstanden sondern sich im Kreis um einen alten Mann mit weißen Haaren aufgestellt hatten. Ein eher kleines Männchen, weiß gekleidet und barfuss. Dass er kleine Schuhe an hatte, sah ich, weil er sich vom moosigen Waldboden ein paar Zentimeter erhob. Also: er schwebte, der Mond war hell genug, dass ich das sehen konnte. Natürlich dachte ich: ich seh’ nicht recht.

Du weißt ja, dass ich immer eine kleine Taschenlampe in der Hosentasche habe. Mein erster Impuls war: leuchten. Er war bestimmt auf einen Stein gestiegen oder einen Ast. Zum Glück ließ ich meine Lampe in der Hose. Denn jetzt wurden alle unruhig, ein Stöhnen oder Brummen oder Raunen ging durch die Leute. Einige riefen auch etwas, das ich nicht verstand. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Also offenbar irgendeine Sekte, die ein Vollmondritual feierte und am Ende doch was gegen Fremde hatte. Später erfuhr ich, dass ich in eine Feier der Mondmilchtrinker geraten war. Im Augenblick aber dachte ich nur: wie komm ich da heil davon. Das Gesumse wurden immer lauter, ekstatischer. Der Alte begann zu leuchten, wie von innen heraus. Kann aber auch der Glanz des Mondes auf seiner hellen Kleidung gewesen sein. Ich spürte jedenfalls, dass ich die Distanz zu verlieren drohte. Einige begannen hoch zu springen, zunehmend verzweifelt, wie mir vorkam. Ein paar hatten sich wieder auf den Boden gesetzt und ließen den Kopf hängen. Einige kamen mir wütend vor. Was würde geschehen, wenn der Mond hinter dem großen Hügel verschwinden würde und das war schon sehr bald der Fall. Sollte ich vorher davonrennen? Aber wohin? Und die Leute kannten sich in diesem Wald bestimmt besser aus als ich. Da öffnete der alte Mann die Augen, lächelte mich an und zeigte mit dem Finger auf mich. Sogleich hörte das Gesumse auf, alle drehten sich zu mir und ich spürte, wie mir schlecht wurde. Nein, eher schwindelig. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körpergewicht nach unten wegtropfte, aus mir heraus floss. Zugleich hatte ich im Magen dieses ekelige Gefühl, das man kriegt, wenn der Aufzug seine Geschwindigkeit plötzlich verringt. Begann ich zu schweben? Unter meinen Füssen spürten ich jedenfalls nicht mehr den Druck des Bodens auf meine Schuhe. Ich hatte nur noch den Gedanken: du musst dich festhalten, irgendwo festkrallen und: nur nicht nach unten schauen. Dann muss ich ohnmächtig geworden sein.

Als ich wieder aufwachte war es schon morgendämmrig und mein Kopf lag im Schoss dieses Alten. Er lächelte mich an und hob meinen Kopf behutsam auf und legte ihn auf das Moos. Dann stand er auf und ging wortlos weg. Ich rappelte mich hoch; ich fühlte mich erfrischt und wieder ganz normal aber ganz durcheinander. Ich ging im Laufschritt und trotzdem fröstelnd zu meiner Herberge, da war um die Zeit noch niemand wach und legte mich auf mein Bett. Ohne mich auszuziehen. Als ich wieder erwachte war es schon Mittag und mit jeder Minute kamen mir die Erlebnisses dieser Mondnacht unwirklicher vor, als hätte ich sie nur geträumt. Man hat mir zwar erzählt, dass es diese Sekte der Mondmilchtrinker wirklich gebe und dass sie glauben, der Vollmond habe die Kraft, aus den Menschen die Schwerkraft herauszusaugen. Aber du weißt, ich glaub nicht an solchen Kokolores.-
Bei dir alles in Ordnung?
J.

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