Mittwoch, 17. Februar 2010

Kniefall



Der Läufer im Schloßpark stolpert, rudert mit den Armen, knickt dann aber doch ein und landet auf seinen Knien. Peinlich berührt schaut er sich um, niemand hat seinen Sturz bemerkt.
Er will sich wieder aufrichten, da spürt er, daß seine beiden Beine von den Knien abwärts sich von seinem restlichen Körper gelöst haben. Wie zwei Stehaufmännchen, als wäre ein Gewicht in den Schuhen, wackeln sie sich in aufrechte Position und setzen dann ihren Lauf fort; joggen nun neben ihm her. Er, der nun viel kleiner ist, stakert wie eine Puppe, breitbeinig, als hätt‘ er die Hosen voll. Seltsamerweise bellen die Hunde ihn an, nicht seine abgetrennten Füße.

Anfangs hofft er, daß sie einlenken. Er wird sonst nicht mehr an den Briefkasten hochreichen. Stelzenbeinig balancierend, ohne die Plattform der Füße, steht es sich erbärmlich. Auch hat er Angst, wenn er die Stummelenden seiner Knie zu sehr abnutzt, würden sie im Fall einer Wiedervereinigung nicht mehr zu der unteren Hälfte der Beine passen. Wenn die Nahtstellen zerdrückt sind, gar eitern. Er bemüht sich darum, auf dem Rasen zu laufen, den Kies zu vermeiden.
Er kann von oben in die Knorpelöffnung der beiden Unterkniehälften schauen, der Anblick ekelt ihn. An der kleinen Brücke geschieht das Schreckliche: das Fußpaar teilt sich. Einer läuft über die Brücke und dann den kleinen Bach entlang weiter, der andere bleibt diesseits. Dem schließt er sich an.

Er war von normaler Größe gewesen, nun würden alle auf ihn herabschauen. Nein, er mußte jetzt zu allen hinaufschauen. Wie ein Kind, ein Liliputaner. Für einen Liliputaner bin ich nicht witzig genug, dachte er beschämt. Seine Frau würde sich beim Spaziergang nicht mehr von ihm um die Hüfte fassen lassen, sie würde ihn, da sie stets schneller ging als er, was er mit dem Hüftgriff bisher einigermaßen steuern konnte, wie ein kleines Kind an der Hand hinter sich herzerren. Der Gedanke an ihre großfingrige, immer rauhe Hand tröstete ihn für einen Augenblick. Aber sie würde sich nicht daran gewöhnen können, bei ihren langen Monologen hin und wieder zu ihm hinabzublicken. Sie würde über seinen Kopf hinwegreden.

Samstag, 13. Februar 2010

Seelenstille


Es ist so still im Raum, nur der Computer faucht leise.
Es ist auch draußen so still, kein Wind, der an Ferne erinnert. Auch kein Regen, der die Nähe einspinnt. Jetzt wär’ mir eine Äolsharfe recht, obwohl ich gar nicht so genau weiß, wie sie klingt. Vermutlich zu dünn, zu glaskratzig. Besser eine Amsel, nach dem Regen. Nein, ein dunklerer Ton: eine Schiffssirene, dieses füllige, heisere, wolkige Brummen eines großen Dampfers, das wär’s. Aber ich bin ja an der Spree, nicht am Missisippi.
Dass man den Fluss unten nicht hören kann, ist schade. Er schiebt sich lautlos wie Schlamm an mir vorüber. Nur wenn die Ausflugsdampfer vorbeifahren oder gar wenden, dann plätschern die Wellen eine kurze Zeit ans Ufer. Aber das hat nichts von jener seltsamen Beruhigung eines Bachs oder gar eines Brunnens, vor einer Berghütte zum Beispiel. Ich erinnere mich.

Auch ich unterscheide zwischen tröstlichen Geräuschen und solchen, die quälen. Genau so zwischen einer beklemmenden Stille oder einer, die gut tut. Ich will aber nicht von einer Stille oder einem Geräusch vor meinem Fenster reden, auch nicht von der hier in meinem Zimmer, vielmehr von einer Stille in mir, die jetzt durch die äußere spürbarer wird. Ich rede von einer inneren Stille, die mir große Verzweiflung zufügt. In mir bleibt der Widerhall aus; ein dumpfes Verschlucken, Vernichten, Entwerten dessen, was von außen auf mich eindringt. Wie im „schalltoten“ Raum des Aufnahmestudios werden meine Wahrnehmungen weggesaugt. Nein, das ist noch zu aktiv. Sie kommen heran, enden aber echolos, sie verenden. Mein Ich ist ihr Grab.

Ob ich mich verständlich ausdrücke? Wohl nicht.
Wenn einer was sagt zu einem anderen, gar ihn fragt, und der antwortet nicht darauf, so nennt man das Entwertung, eine meist gezielt eingesetzte Kränkung. Wenn ich etwas wahrnehme und nichts in mir gibt Antwort darauf, dann habe ich das bange Gefühl, dass nicht dieses Andere entwertet wird, vielmehr ich. Dass ich ein nichts bin. Durch das die Welt spurenlos hindurchsickert.
Ich fühle mich zuweilen, nein: sehr oft, wie imprägniert. Wie an einem Regenmantel die Tropfen abperlen, nicht nach innen gelangen, so perlt an mir, gleichsam außen, alles ab, von dem ich doch meine, von dem ich wünsche, dass es in mir eine lebhafte Resonanz geben müsste. Einen Widerhall wenigstens.
Ich lese einen Text, ich betrete einen Raum, mir begegnet ein Mensch, ja, ich wende mich grübelnd mir selber zu- und es löst keinen Widerhall in mir aus. Dabei weiß ich, es müsste, aber ich bemerke deutlich, es kann meinen Panzer nicht durchdringen. Folglich kann das Erlebte nicht zum Besitz werden, sich nicht zur Erfahrung wandeln. Ich bleibe mit leeren Händen zurück.

Nun kann man derlei immer wieder wegdrücken, wie den Gedanken an den unvermeidlichen Tod, immerhin mit einiger Linderung, doch ohne Trost. Es ist wie bei heftigem Zahnschmerz: man kann ihn wehen lassen, ohne Widerstand, der ihn ja nur aufreizt, ihn ignorieren, aber am Ende bleibt er bestehen, macht sich, gleichsam wie bei der ersten falschen Bewegung auf dem Trapez, verhängnisvoll wieder bemerkbar. Ich empfinde mein Abweisen der Räume, der Texte, der Menschen, der Situationen nicht als meine Aktivität, wie man manches ablehnt, oder gering schätzt, oder polemisch zurückweist. Mir fehlt der Schlüssel zu all dem. Oder ich finde kein Schlüsselloch? Jedenfalls fühle ich mich ausgesperrt, schon abgeschrieben, zu Lebzeiten versteinert, tot. An eine Erlösung wie im Märchen glaube ich nicht.

Von daher mein kindliches Greifen nach der weiblichen Brust; Trost und Halt suchend und wenn ich sie mir auf’s Auge lege, bin ich in Sicherheit, gimmy shelter, keine Schwerelosigkeit mehr, die mich abtreibt.
Und immer horche ich angestrengt in mich hinein und bin überzeugt, da drinnen müsste es nun einen starken Widerhall geben, ein Aufbrechen des verkrusteten Panzers meiner Blasiertheit, meiner Begriffsstutzigkeit, meiner schlangenhautkalten Nicht-Einfühlung. Doch nichts passiert, nichts gerät in Schwingung. Es bleibt gespenstisch still in mir, ich leide am Schattenmangel eines Untoten. Ist es nicht wie der Albtraum, wo einem der Hilfeschrei im Hals stecken bleibt?

Freitag, 12. Februar 2010

Fenster Blick

Fenster Blick

eisschollenschuppige
bleichwinterspree
dahinter der schwarze
strichcode der bäume
wer hat die farben veruntreut
verpulvert das grüne der wiesen

drüber der himmel
verdient nicht den namen
kopfkissenschlaflos und
leergeschüttelt
aussichtslos grau

ein entengeschwader
schwarzfedrig schnatterlos
navigiert durch einen
schmalen kanal
zwischen den schollen
die stillstehen und
nicht länger klingeln

hat jemand die hoffnung
gesehen


die nächte freilich, ihr sog nach unten, bitterer vorgeschmack auf die kommende mühsal des sterbens. Wenn beklemmung herandrückt, nicht von aussen als fremdes, nein von innen als blut vom eigenen blut. Jenseits des fenster schaben die eisschollen auf dem schwarzen fluss aneinander, unhörbar für mich, lautlos auch der schneefall auf bäume und autos. Wer so was vernehmen könnte! Der eigene atem, regelmässig, mit bedacht, und das humpelnde herz sind lauter. Nur nicht zuviel deckenraschelndes rumdrehen, damit sie nicht auch noch erwacht. Fast beruhigend der blick zur leuchtenden uhr: bald geschafft. Schlimmer fast noch das aufstehen: nun ist alles verrenkt und die hände vollgepumpt mit bremsflüssigkeit. Wehe, jetzt fällt was zu boden, wie soll ich das – weit weit entfernt – aufheben, festhalten, forttragen?

Später, beim blick aus dem fenster hinab auf die spree: die eisschuppen wie fettaugen auf einer erkalteten suppe. Einkaufen, essen vorbereiten, der tag lässt sich nicht lang bitten, er schüttelt aufgaben aus seinem netz, mit sinn für belohnung sind auch bücher darunter. Nun denn, da wollen wir uns nicht lange zieren.

Mittwoch, 10. Februar 2010

Mezza Luna

oder
Die wahre Geschichte von der Frau im Mond

für Karina
für Emma
für Marie
und ein bisschen auch für mich
(meinetwegen auch für dich)



1. Der Besuch oder
wenn hungrige Heuschrecken kommen
bleibt nichts auf dem Teller


Sitzt ihr bequem? Du auch? Das ist gut. Und nun wackelt bitte nicht mit dem Stuhl, sonst bringt ihr mich draus; die Geschichte ist nämlich ganz schön aufregend.

Also – an einem regenschönen Abend im März war es wieder einmal so weit: sie durften zu Besuch kommen. Wer? Na wer schon! Das ist aber echt eine vorlaute Frage! Zwischen dem südlichsten Nordpol und dem nördlichsten Südpol kennt die zwei doch jeder und ihr wollt mir weismachen, dass ihr noch nie was von ihnen gehört habt? Seltsam, sehr seltsam. Na ja, jeder macht mal einen Fehler, nicht nur die Doofen. Also dann sag ich’s euch halt.

Meine Geschichte handelt von den vier vermutlich allernettesten Menschen in der ganzen Welt, unge-schwindelt ehrlich! Und leider auch von dem bestimmt widerlichsten Kerl der ganzen Welt. Der war so unangenehm, so ekelig, so unverschämt, dass man ihn lieber nicht kennen lernen mochte. Aber danach hat das Monster leider nicht gefragt.

Beginnen wir mit den vier Guten. Das waren: Marie die Gießkanne, Emma die Zwitscherschwalbe, Heinz der Karottenpfurz und Oli-KöKa, die Hauptperson, um deren Entführung sich alles dreht. Was denn? Sehe ich schon wieder Fragenzeichen in euren Augen? Oje.

Am besten stell ich sie euch der Größe nach vor: Da ist zuerst Marie die Gießkanne. Sie heißt so, weil sie alle sieben Minuten und 16 Sekunden zur Toilette geht und einen einzigen glasklaren Tropfen pinkelt. Der klingt, als würde eine Perle auf ein Silbertablett fallen: plinks, oder znicks oder plillt oder so ähnlich, ihr habt ja selber Ohren und vielleicht sogar ein bisschen Phantasie. Warum so oft, fragt ihr, warum so wenig, denkt ihr. Weil sie sich so gern zur Toilette begleiten lässt, da muss sie sparsam sein mit ihren Tröpfchen.

Dann haben wir Emma, die Zwitscherschwalbe. Sie kann viel, ziemlich viel sogar, aber eins kann sie nicht: den Schnabel halten. Sie redet und redet und wenn alle meinen, nu isse fertig, da fängt sie von vorne an. Wenn die Sonne aufgeht fängt sie an zu zwitschern und wenn die Sonne untergeht, ach, da hört sie immer noch nicht auf zu zwitschern. Von ziemlich früh bis ziemlich spät zwitschert sie Wörter. Lange Wörter, kurze Wörter, schöne Wörter, fiese Wörter, kluge Wörter, blöde Wörter. Das mach ihr erst mal nach.

Das sind also die zwei Supergirls in meiner Geschichte. Eltern? Natürlich haben die auch Eltern: die Mutter hat rote Haare, der Vater grüne, oder keine oder umgekehrt, spielt aber keine Rolle in meiner Geschichte, lenkt mich bitte nicht ab. Ihr kennt ja noch gar nicht die dritte Person meiner Geschichte.
Der dritte Held meiner Geschichte ist Heinz der Karottenpfurz. Bitte keine Kommentare zu seinem Namen! Den hatten die zwei Supergirls an dem Abend kennen gelernt, als sie wieder mal zu Besuch zur Oli-KöKa kommen durften.
Zuerst dachten sie: den brauchen wir nicht. Als er ihnen aber zeigte, dass er Lichtausblasen konnte; also nicht eine Kerze, das kann ich auch, nein: richtige elektrische Lampen auspusten, da dachten sie: Den schauen wir uns mal genauer an. Tatsächlich konnte er noch ein bisschen mehr. Zum Beispiel den Apfeltrick: machen, dass ein ganzer Apfel erst halb und dann ganz gegessen ist, äh, das kannst du auch, na ja. Vielleicht kein Zaubertrick. Aber ein paar echte Zauberkunststücke hatte er schon drauf, auch wenn es sich öfter mal verzauberte und dann gab’s ein ziemliches Durcheinander. Zum Beispiel beim Trick mit den schwebenden Eiern, oder der weinenden Bratwurst oder dem träumenden Büchsenöffner. Übrigens möchte er nicht, dass ich darüber rede, schon gar nicht, wie er das macht. So was kann ein Zauberer nicht ausstehen. (Das mit dem Apfel geht übrigens so, dass – ach nein, ich hab’s ihm versprochen. Unter uns: manchmal verhaut er sich wirklich ganz schön. (Jeder macht mal einen Fehler) Marie aber erkannte sofort: er ist ein guter zur-Toilettebegleiter.

Da haben wir sie also: Marie die Gieskanne, Emma die Zwitscherschwalbe, Heinz der Karottenpfurz, nun fehlt uns nur noch Oli-KöKa. Ach, die gute Oli-KöKa. Was für eine sympathische, freundliche, liebenwerte, ja fast könnte man sagen: echt coole Frau.
Was schaut ihr eigentlich so doof? Muss ich euch das vielleicht auch wieder erklären? Ogott: Wen kennt ihr eigentlich, ihr Pflaumenmusköpfe??
Also Oli-KöKa das heißt bekanntlich „oberste Lieblings-Königin-Karina“, weil das aber ein wahrer Zungenbrecher ist, deshalb die Abkürzung Oli-KöKa. Und die kennt nun wirklich jeder. Und jeder liebt sie, ich übrigens auch.

Als die Geschichte anfing, wohnte sie noch in ihrem Palast zum umgekippten Schiff. Nach oben ist er spitz, unten flach. Sie hat natürlich auch noch anderswo Paläste, kein Wunder, sie ist ja Königin. Wo, wollt ihr wissen? Zum Beispiel in, in äh, in Oberschwein, nein Tob allein, äh Oberfein? neee: Zinnoberbein! O die Pein – Omilein - Obsthinein? ach Mensch, ich weiß es auch nicht mehr,- jedenfalls hat sie noch einen zweiten Palast hoch oben in den Bergen wo unten ein See plätschert, du weißt schon wo. Und einen besonders schönen Palast hat sie hoch droben auf dem Mond. Davon später.
Jedenfalls ist sie durch&durch in Ordnung. Ich könnte euch ganze Bibliotheken voll von ihr erzählen, zum Beispiel: wenn ein Teller kaputt bricht, dann muss sie nur mit der Hand drüber streichen und schon ist er wieder heil. Oder wenn die Suppe versalzen ist: sie steckt einen Finger rein und schon schmeckt sie wie Sonntag. Oder zwei haben sich in einen Zankapfel festgebissen und streiten dass die Fetzen fliegen, da lächelt sie nur und schon fallen die zwei sich in die Arme. Oder wenn sie,- halt, ich darf mich nicht verzetteln, ihr wollt ja wissen, wie die Geschichte weitergeht.

2. Das Problem oder
wie kriegen wir das wieder hin?


An dem Abend, als die Mädchen zu Besuch bei ihr kamen, da merkten sie sofort: hier stimmt was nicht. Was war passiert?? Fortsetzung folgt. Bitte umblättern.


3. Nichts ist mehr wie früher oder
die Luft ist so knapp


Erst gab es Abendessen, wie immer, es war lecker, wie immer, wenn auch ein wenig sonderbar: die Gurkenscheiben segelten immer davon bevor man sie greifen konnte und die Salamischeiben wickelten sich von selber ein und liefen immer auf dem Tisch herum. Das Brot zerfiel in sechseckige Krümel und die Teller seufzten, sobald man eine Olive drauflegte. Und Tomaten küssten die mozarella, dass es ekelig schmatzte. Es dauerte, bis die zwei Mädchen merkten: Da steckte Heinz der Karottenpfurz dahinter mit seinen Zauberkunststücken.
Alles eigentlich ganz lustig aber doch wieder nicht. Allen war aufgefallen, dass Karina, die oberste Lieblingskönigin, so heftig nach Luft schnappte, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Emma hatte mal einen Fisch aus dem Aquarium geholt (Jeder macht mal eine Fehler, oder?), ihn an ihr Ohr gehalten und gehorcht, ob er nicht vielleicht doch reden könne, aber er hatte nur gejappst, so wie jetzt Karina, die Königin. Aber Karina war kein Fisch, also was war passiert?

Erst traute sich keiner zu fragen, endlich aber fasste sich Heinz der Karottenpfurz ein Herz und fragte: Was ist denn mit dir, liebste Karina?
Da kam es heraus: der Luftfrass hat sie befallen, der grausame, boshafte Luftfrass. Ein Bösewicht, der von der Luft anderer Leute lebt. Er ist unersättlich und fies sowieso, will nicht abgeben, kriegt niemals genug.
Da beschlossen sie, ihr zu helfen, aber wie bloß? So schnell hatte niemand einen guten Plan.

Einfach abhaun von hier, schlug Marie vor und alle klatschten ihr Beifall. Aber die Königin war gar nicht begeistert. Ihr Lieben, sagte sie leise, hier ist es so schön. Besonders am Morgen, wenn die Sonne langsam um die Ecke wandert, sich erst noch hinter dem Bücherregal versteckt, dann die Schattenfotos anleuchtet (Schatten ernähren sich von Sonne), dann meinem kleinen Foto in die Augen leuchtet. Und mit einem mal kommt sie hinter Bücherregal hervor und gibt mir einen Morgenkuss. Das kann ich doch einfach verlassen, das müsst ihr verstehen.
Da waren alle drei einen Augenblick ratlos und blickten kleinlaut umher.
Aber die Sonne, sagte nun Emma, die scheint auch wo anders. Auch um die Ecke, fügte Marie hinzu. Zum Beispiel auf deinem Schloss droben auf Mezza luna, erinnerte Heinz der Karottenpfurz vorsichtig.
Ach ja, sagte die Königin: Mezza luna, da oben ist’s schön. Da schmeckt die Luft nach Pfefferminz und beim Ausatmen wachsen dir Eisblumen aus dem Mund. Wenn ich da oben wär,’ würde ich euch manchmal einen Armvoll von diesen Eisblumen hinunterwerfen auf eure Erde und ihr würdet sie als Schneeflocken fangen. Die ersten drei bewirken übrigens Wunder. Sie sind eierschalen weiss und haben sieben Zacken statt sechs.
Also da droben, fragte Emma, da kann dir der Luftfrass nichts mehr anhaben?
Ja, sagte die Königin, dort oben bin ich in Sicherheit.
Das klingt gut, sagte Marie, und warum fahren wir nicht sofort hoch zu deinem Schloss?
Das geht nicht, sagte die Königin leise; der Luftfrass lässt mich nicht weg. Er bewacht mich bei Tag und bei Nacht, wie soll ich ihm da entfliehen?
Wenn er dich bewacht, sagte Emma entschieden, dann müssen wir ihn halt bescheißen.


4. Geschwindelte Abfahrt oder
jetzt müssen wir ihn einfach reinlegen


Sie packten ein für die Reise zum Mond. Viel war nicht nötig. Die nachtblaue Decke gegen den Weltraumwind. Und die Jacke mit den glatt geklopften Edelsteinen zum Lesen der Luftpost am Abend. Halt: und den vanilleyoghurtfarbenen Schal für den Hals, vermutlich gab’s gewaltigen Fahrtwind jenseits der Wolken. Ich würde eigentlich gern auch den Teppich mitnehmen, da sehe ich dann immer, in bunte Figuren gewebt, was ihr treibt auf der Erde. Und sie rollten ihn zusammen und nahmen ihn mit.
Sie schlichen zur Wohnungstür, öffneten sie langsam, dass sie schön knarrte und warfen sie dann mit einem Schwupps wieder zu. Schön laut, damit der Angstfrass meinte, jetzt würden sie versuchen, abzuhauen. Dann auf Zehenspitzen hinaus auf dem Balkon. Die Königin kam nur langsam voran. Sie hatte ja das Handtuch am Fuß, mit dem sie immer den Boden polierte, damit sich nachts die Sterne drin spiegeln. Da kann man schön Licht sparen und sieht doch genug, wenn man nachts mal auf die Toilette muss.
Da standen sie nun auf dem Balkon. Der Himmel war klar, recht viele Sterne und wunderbar gelblich leuchtete der Mond. Und was jetzt? Sie schauten sich an, recht bedröpelt und wussten nicht weiter. Und da kam er auch schon gekrochen. Mit patschenden Schritten, gierig schnaufend, offenbar sauer. Der Angstfrass hatte bemerkt, dass sie wegwollten. Hatte er auch bemerkt, dass sie noch da waren? Draußen auf der Terrasse?

Verstecken, zischte Emma, verstecken! Ja schon, aber wo??
Heinz der Karottenpfurz war diesmal der Schnellste. Er sprang in eines der Schattenfotos am Bücherregal und nahm die Haltung des Schattens an. Mit langen Beinen und komisch verrenkt die Arme. Marie machte es ihm nach und hopste in ihr Foto am anderen Ende des Bücherregals und Emma machte es nicht anders. Und schon war der Angstfrass im Zimmer, ekelig schnuffelnd, knurrend und murrend und ganz voller Wut. Die drei in den Fotos hielten sich still, so gut es nur ging. Wenn er nur nicht ewig bleibt, dachte Heinz der Karottenpfurz, lang kann ich nicht so verdreht stille halten. Auch Emma machte sich Sorgen, denn auf dem Foto hatte sie noch keine Zahnlücke. Der Angstfrass glotzte und glotzte. Als er aber die Königin ruhig im Bett sah, rülpste er einmal grauslich; er hatte sie wieder mal mit Luft überfressen und krauchte und fauchte langsam wieder davon.


5. Her mit den Tricks oder
der kann was erleben


Puh, sagte Heinz der Karottenpfurz, mir läuft der Schweiß von der Stirn. Ich bin auch noch ganz zittrig, sagte Marie und Emma mahnte energisch: wir brauchen einen Plan. Leise tuschelten sie, sagten ja, so geht es und dann wieder: nein, so geht es nicht. Ab und zu horchten sie: der Angstfrass hatte sich wieder schlafen gelegt. Am Ende hatten sie einen Plan.

Wenn sie es schafften, bis zum Aufzug im Treppenhaus zu kommen, ohne dass der Angstfrass ihnen auflauerte, dann war die Königin so gut wie gerettet. Du fängst an, sagte Emma zu Heinz der Karottenpfurz. Du sorgst für dicke Luft. Zum Glück hatte er immer reichlich Vorräte in seiner Tasche. Da holte er eine Karotte nach der anderen raus und mümmelte, knabberte, biss und schluckte alles hinunter. Und schon fing es an in seinem Bauch zu brodeln. Und bald darauf fing es auch an zu dampfen, zu zischen, zu pfeifen, oh je. Du machst deinem Namen alle Ehre, sagte Emma und hielt sich die Nase zu. Das stinkt, maulte Marie. Heinz der Karotten-pfurz wurden tomatenrot und seufzte: Was soll ich machen? Schon gut, beruhigte ihn Emma, mit dem Gestank, da machen wir ihn fertig.

Und nun war sie an der Reihe. Sie holte tief Luft und dann ging’s los. Sie spuckte Worte und flüsterte Worte und säuselte Worte und schrie Worte, sie kamen sogar aus ihren Ohren heraus. Ein richtiger Drahtverhau von Worten breitete sich aus. Wenn der Angstfrass wirklich durch die Muffelwolken von Heinzi durchfinden sollte, in diesem Wörtersalat würde er sich rettungslos verheddert. Jetzt aber los, zacki zacki, zum Lift.


6. Glücklicher Abflug oder
das war aber knapp


Sie schlichen alle vier aus dem Zimmer in den Korridor. Hier versteckten sie sich erstmal unter den Mänteln der Garderobe und lauschten: nichts war zu hören vom Angstfrass. Heinz der Karottenpfurz, er war ja der längste von allen, stieß gegen eine Jacke und da fingen die Kleiderbügel an zu bimmeln. Sie klingelten und klimperten und wollten gar nicht mehr aufhören. Das war das Ende! Tatsächlich: der Angstfrass hatte das Klingeln gehört, war aufgewacht und machte sich keuchend und schniefend auf den Weg.

Emma reisst die Wohnungstür auf und huscht mit flaumfederleisen Schritten zum Treppenlift. Er war oben, ein Glück und das Lämpchen leuchtet: abfahrbereit. Rasch schieben sie Oli-KöKa mit ihrem Renncabrio bis zum Aufzug,
Die Königin legt die nachtfarbene Decke auf den Lift, sie helfen ihr hinüber – der Luftfrass hustet und flucht – Sitzt du gut? Ja, alles in Ordnung. Nun erst Emma auf ihren Schoß, auf Emmas Schoß Marie und – ja wohin nun mit Heinz? Heinz der Karottenpfurz grübelt und grübelt, er probiert einen Zauberspruch, er probiert einen anderen – der Luftfrass spuckt und klappert mit seinem Maul – endlich hat Heinz den richtigen Zauberspruch, er ruft ihn dreimal in die Dunkelheit hinein und da verwandelt er sich in den Schatten von Oli-KöKa, und springt auf den Aufzug, jetzt hat er ja Platz. Heinz der Karottenpfurz, ruft Emma verzweifelt, wo steckst du denn? Als Schatten ist er natürlich nachts nicht zu sehen. Da hört man aus dem Dunklen seine Stimme, hier bin ich, gib endlich Gas. Und der Luftfrass hat nun endlich gemerkt, was los ist, man hört seine wabbeligen Schritte, feucht und platschig wie ein Kaugummi unterm Schuh kommt er näher.

Worauf wartest du denn noch, ruft Heinz verzweifelt, mein Zauberspruch wirkt nur noch eine Minute.
Emma kämpft mit dem Sicherheitsgurt, endlich klickt er und sitzt. Jetzt den Schalthebel. Der Aufzug fiept, langsam dreht sich der Sessel zur Seite und dann – ich fass es nicht – fährt er nach unten. Nach oben, rufen die anderen, nach oben! Emma ist beleidigt aber dann schafft sie es doch, sie drückt auf den richtigen Knopf in die richtige Richtung (kannst du vielleicht im Dunklen was sehen?!) Der Aufzug dreht sich schniepsend wieder zurück und dann – hoppla jetzt geht’s aber ab – setzt er sich in Bewegung, nach oben, nach oben. Sie spüren grad noch, wie sich zu ihren Füßen der Luftfrass reckt und streckt und nach oben schnappt und nach oben faucht. Zu spät, zu spät, sie schon unterwegs.


7. Nachspiel oder
sie ist gar nicht weit weg.


Der Alltag ist wieder eingekehrt, Emma kommt gut voran mit ihrem Einrad, neulich hat sie den goldenen Nasenpopel gewonnen, weil sie mit ihrem Einrad über die Elbe gefahren ist, auf einem Spinnfaden, den man von Ufer zu Ufer gespannt hatte. Ach übrigens: Marie hat jetzt auch eine Zahnlücke. Und Heinz der Karottenpfurz: Der ist verschwunden geblieben seit dieser Nacht der berühmten Mondfahrt. Er ist oben auf dem Mond bei Oli-KöKa geblieben, als ihr Schatten und oberster Königindiener. Er darf, wenn die Königin Karin ins Himmelbett gegangen ist als oberster Nachtwächter und Schlafbeschützer ihre Sternschnuppenjacke tragen. (die mit den platt ge-klopften Edelsteinen; die schützt bekanntlich vor Sternschnuppen, denn Sternschnuppen machen Winter-sprossen und die sind weiß und nicht schwarz). Da sitzt er dann jeden Abend an ihrem schwebenden Bett, hat die nachtblaue Decke auf den Knien (es ist ein bisschen frisch am Abend auf dem Mond) und liest der Königin aus einem dicken Buch vor, wie der Mond, die Sonne und die Sterne entstanden sind und wie auf der Erde das Wasser nass wurde und der Himmel blau und die Fische ihre Flügel verloren und die Vögel zwitschern lernten. Und wie die Blumen farbig wurden (anfangs waren sie schwarz, das war aber nicht das richtige). Unter uns: Wenn ihm einer über die Schulter schauen könnten, da würde er, im vanilleeisfarbigen Mondlicht ganz schön staunen: das Buch, aus dem er vorliest, ist leer, es hat lauter weiße Seiten. Erfindet der Heinz seine Geschichten??

Noch was solltet ihr vielleicht wissen: Als oberster Mondköniginnenvorleser konnte er natürlich nicht länger Heinz der Karottenpfurz heißen. Auf seinem sonnenuntergangsroten Pullover hatte ihm Oli-KöKa ein Blatt vom Zitronenbaum aus dem Wintergarten genäht, darauf stand mit schönen Druckbuchstaben aus flüssiger Schokolade: (ab & zu leckte er die Schrift ab, da musste sie wieder neu geschrieben werden). „Der gutealtetreue Georg“.
Und der wünscht euch nun allen eine gute Nacht. Und wenn ihr schön schlaft, dann könnt ihr bei Vollmond im Traum ja zu Besuch zu uns hochkommen: es gibt jede Menge zu naschen. Und zu erzählen. Und Karin geht es hier oben wieder sehr gut. Und wie geht es euch zweien da unten?