Mittwoch, 10. März 2010

Das Aug’ als Konstrukteur



Zu Günter Wagners Plastiken

So paradox es klingt: viele dieser Plastiken sind zweidimensional. Wagner hat eine Vorliebe für Geometrie. Fläche, Platte, Scheibe, Band sind sein Ausgangspunkt. Ein weiteres Prinzip kommt hinzu: die Komposition aus zwei unterschiedlichen Materialien. Früher waren es schwarzer Granit und glänzender Chromstahl, seit einigen Jahren sind es Stahl, durch Rost warm getont, und Glas. Formbar ist bei Glas nur der Umriss, die Linie: geometrisches Prinzip also auch hier. Als Konstruktivist erbaut Wagner seine Volumina aus der Fläche. Die Deformation des Stahls bleibt jedoch moderat – bloß keine manieristischen Verrenkungen; jede autobiographische Selbstfeier ist abgewendet – bloß keine Gefühlsausbrüche; obwohl Handwerk vom ersten bis zum letzten Arbeitsgang: die Handschrift ist getilgt – bloß keine Geburtsspuren. Nur das Ergebnis zählt. Erstaunlich, wie unter seiner Hand das Schwere leicht scheint, das Starre bewegt und das Flache gefüllt.

Ich meine, zwei unterschiedliche Kompositionsverfahren beobachten zu können. Das erste, das geometrische, teilt auf: einen Satz auf zwei Sprecher. Als zöge einer mit dem Bleistift eine Linie. Das letzte Drittel dieser Linie radiert er wieder aus und ersetzt den Bleichstiftstrich durch einen mit dem Farbstift. Nichts hat sich geändert, die Länge nicht, die Richtung, im Idealfall nicht einmal die Dicke des Strichs. Warum ist dennoch alles anders geworden? Wenn Wagner den Ausläufer eines Stahlloopings mit einem präzise angepassten Glasband zuende bringt, dann ist der Verlauf der Form „korrekt“, und doch ist sie verändert. Schwer zu sagen, was wir sehen: Bruchstelle oder Naht?

Die zweite Methode ist stereometrisch. Die beiden Materialien – Glas und Stahl - werden nun nicht sukzessiv verbündet, sondern synchron. Sprechtheater wird zum Musiktheater erweitert. In solch einem Duett durchdringen sich in Wagners Plastiken Stahl und Glas, sie ergänzen sich, formulieren sich zu Ende, errichten im Dialog einen Raum, steigern sich bis zur Architektur. Das Material wird durch die Verformung leichter, es erhebt sich. Was am Boden lastet, bäumt sich auf: zur Brücke, zur Architektur. Die Berührungsfläche mit dem Grund wird geringer, der Stand geistiger, wir erleben den aufrechten Gang.

Ich empfinde die vollendete Harmonie der weichen, sanften Schwünge in Günter Wagners Arbeiten als ebenso provokant wie das Gewalttätige in ihnen. Mich beunruhigt, wie das zerbrechliche Glas sich in den Stahl einritzt, sich in eine Umarmung begibt, die starres Stillhalten erzwingt. Penetration, die mit der Vernichtung spielt?
Die Harmonie in Wagners Kunst ist voller Gefährdung. Eine Kleinigkeit schon, bangt man, wird die Glastürme einfach umwerfen, wird die hybriden Architekturen zum klirrenden Einsturz bringen. Die Sorge, sich selbst zu verletzen oder das Kunstwerk zu beschädigen, hält in Distanz. Für die Augen geschaffen, dem rationalsten unserer Sinne, nicht für den dumpfen, körperhaften Tastsinn, stellen uns Wagners Plastiken die harmonia mundi in Aussicht: zum Greifen nah und doch nichts, was man mit Händen halten könnte.

Spielt Wagner mit diesem Widerspruch? Vermutlich ist er jenes Element der Anziehungskraft, das in Ausstellungen den Besucher bannt. Als etwas Fremdes, Ungesehenes umkreist er die Werke, erprobt dabei die zahllosen Perspektive. Freilich in gehörigem Abstand: Das noli mi tangere der Wagnerschen Plastiken verfehlt selten seine Wirkung.
Glasspitzen, Glaskanten, auch die rostige Oberfläche, das lädt nicht zum Drübenstreichen ein. Wagner konstruiert keine Objekte für lüsterne Handflächen, neugierige Fingerspitzen, vorwitzige Fingerknöchel. Seine Plastiken streichelt man nicht, begrabscht man nicht, lässt man nicht anklopfend erklingen. Man schaut sie an. Sie sind für die Augen da. Und für sonst gar nichts.

(zuerst veröffentlicht im Ausstellungskatalog
Galerie Wegmann, Grafing/München 1994)

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