Donnerstag, 11. März 2010

Picassos „Guernica“ als Zitat



Zur Funktion des Kunst-Zitats in drei Bildern der Equipo Crónica

I.
Ein Buch über moderne Kunst beginnt mit einer Definition, der zufolge es zwei Arten von Kunst gibt:
„Die eine gehört zu ihrer Zeit, der sie entstammt, die sie definiert, zergliedert, widerspiegelt, Liebhaber gewagter Metaphern vergleichen sie gern mit einem Seismographen, der die unterirdischen Erschütterungen und Umwälzungsprozesse, wie sie zu allen Zeiten stattfinden, visuell festhält. Die Kunst aber wird dabei – was ein Seismograph nicht kann – auch die Konstanten berücksichtigen, die ihrem Zeitalter Gerüst, Skelett, Korsett geben. Wenn (dieser Art) Kunst etwas Gutes gelingt, dann gelingt es ihr, Gegenwart zu einen Stück Zeitlosigkeit zu machen“. Als Beispiel für diese Art von Kunst nennt der Autor Picassos „Guernica“. „Picasso war solch ein Seismograph. „Guernica“ gab dem Entsetzen einer Menschheit Ausdruck, die von einem Weltkrieg in den anderen gestürzt wurde: Vorahnung eines Erdbebens. „Guernica“ war keine Utopie, basiert vielmehr auf tatsächlicher, aktueller Erfahrung, auf einem Bombardement, dem Frauen und Kinder zum Opfer gefallen waren, eine Generalprobe für den heißen Krieg. „Guernica“. War kein Hirngespinst, kein Nirgendheim, sondern grausame Wahrheit, Gegenwart.“ (H. Ohff, Kunst ist Utopie, 1972, p.4)

Aufmerksamkeit verdient daran zunächst die Passage im Text, in der am Picasso-Bild gelobt wird, dass es ihm gelinge „ Gegenwart zu einem Stück Zeitlosigkeit zu machen“. Dann aber auch, dass der Autor zur Illustration seiner These einen Ausschnitt aus dem „Guernica“-Bild wiedergibt. Just dieser Ausschnitt wird auch in einem Bild der spanischen Gruppe Cronica (Equipo Crónica) zitiert. Die Absicht der beiden Zitate ist sehr unterschiedlich.

Zweifellos spiegelt das Buch über die utopische Kunst die opinio communis, wenn es das Picasso-Bild als exemplarisch hinstellt: dass es so bekannt und anerkannt ist, empfiehlt es als Zitat. Indes wollen die jungen Spanier mit ihrem Bild, worin „Guernica“ zitiert wird, nicht diese verbreitete Ansicht über Picassos Gemälde bestätigen, vielmehr wird ihnen dessen Gültigkeit zum Problem. Für sie hat das einen konkreten Anlass: 1969 berichtete die Presse, dass der Franco-Staat das Bild in einem spanischen Museum haben will. Die beiden Cronica-Künstler malen sich in einer Serie von Kunstwerken aus, was man dem Bild damit antäte, käme es zurück in die Hände derer, gegen die es gerichtet ist. (Picasso hat dieses Ansinnen zurückgewiesen).
Die Bedeutung der Cronica-Bilder ist nicht auf diesen konkreten Anlass beschränkt, sondern war von vornherein als allgemeinere Reflexion über das Schicksal politischer Kunst angelegt.

Die folgende Interpretation wird sich deshalb daran halten, welche Gefahr einem politischen Kunstwerk überhaupt durch seine Rezeption droht. Denn: ist auch die Gefahr gebannt, ein Bild möchte in die Hand seiner erklärten Feinde geraten, so besteht immer noch jene andere von Seiten seiner Verehrer und Bewunderer, die dafür sorgen, dass seinem politischen Schrecken der Garaus gemacht wird.

II.
Wie der Kritiker wählen also die beiden Spanier aus dem riesigen und sehr komplexen Gemälde Picassos einen kleinen Ausschnitt. Es ist noch begrenzter als im Buch. Wegfällt die Tischkante und jener bei Ohff noch gut sichtbare Teile des Vogels auf ihm. Damit wird der Ausschnitt nicht nur kleiner, sondern inhaltlich anders. Es ist der Verzicht auf Bestandteile einer Symbolik, die beim Gesamtbild durchaus eine Rolle spielten. Wie sehr diese Auslassung bei den beiden Malern System hat, kann man daran sehen, dass das, was wegfällt, nicht am Ausschnitt liegt – wie man leicht nachprüfen kann – sondern von den Spaniern einfach weggelassen wurde. Was bleibt, ist jene grellste und lauteste Stelle im „Guernica“-Bild, der expressive Aufschrei des zu Tode getroffenen Pferds, dessen klaffende Wunde, zur Erklärung des Schreis, im Zitat ebenfalls zu sehen ist. Außerdem sind noch die beiden Lichtquellen zitiert, in denen die Augenzeugenschaft zum Ausdruck kommt. Auch hier übrigens im Zitat ein winziger Eingriff, der die Absicht erkennen lässt: um das Grelle von Licht und Schatten zu verstärken, haben die Zitierer die Spitze der im Original die Giebelkonstruktion andeutenden Linien weggelassen. So erscheint das Verbleibende als greller Schatten des von der Faust gehaltenen Lichts und verstärkt damit das Thema der Augenzeugenschaft.
Sie haben aus dem lang gestreckten Original einen quadratischen Teil ausgewählt, in dem der Pferdekopf am Rand erscheint. Nun würde der Pferdekopf nach links aus dem Bild herausschreien. Sie haben aber das Ganze Seiten verkehrt wiedergegeben, da unseren europäischen Sehgewohnheiten die isolierte Bewegung von rechts nach links gegen den Strich geht.

Soweit die Veränderungen, die das Bild Picassos durch das Zitat gleichsam materiell erleidet. Weitere kommen hinzu durch den neuen Kontext, in dem der Bildausschnitt nun steht. Noch einmal gibt es wahrnehmungspsychologische Erklärungen für diesen Vorgang. Der Ausschnitt wird aus dem komplexen und vergleichsweise unübersichtlichen Ganzen heaus genommen und in den Rahmen eines informationsarmen Kontextes versetzt. Durch diesen Kontrast kann er um so lebhafter zur Geltung kommen. Eine Sehhilfe mit Tendenz. Die vielfältige und bei Picasso absichtlich ambivalente Information ist hier reduziert. Die Gruppe Cronica lässt weg, isoliert, setzt Akzente. Die Verschiebung ist unverkennbar: im Gegensatz zu Picassos Bedeutungsvielfalt betonen sie in ihrer Reduktion Schrei und Aufklärungssymbolik. Lenken die Aufmerksamkeit eindeutiger auf das Opfer der wehrlosen Kreatur und darauf, dass es nicht unbemerkt blieb. Die Rezeption des Bilds ist damit zum Thema geworden.
Veristisch ist ein quadratisches, mit Wellpappe verpacktes und verschnürtes Bild dargestellt. An der oberen rechten Ecke aber ist die Wellpappe als von außen aufgerissen gemalt, so dass jene beschriebene Partie „Guernicas“ sichtbar wird.
Natürlich glaubt niemand, einen Teil von Picassos Original vor Augen zu haben. Gleichwohl ist man verwirrt. Selbst bei flüchtiger Erinnerung an das Original weiß man wohl, dass es sehr lang gestreckt ist und dass das Pferd darin keinesfalls am rechten Rand steht. Wenn es das Original Picassos nicht ist, das hier in einer Art Schnappschuss als sehr notdürftig verpackt dargestellt ist; und wenn auch nicht etwa irgendwelche Fahrlässigkeiten aufgedeckt werden sollen bei der Konservierung des unersetzlichen Picassobildes, was dann? Sollte so Kritik an der Weise geübt werden, wie man mit dem Bild im Museum umgeht? Die Verpackung als Symbol für die Behandlung des berühmten Bilds aus dem spanischen Bürgerkrieg?
Zu überlegen wäre dann, was mit der Metapher „Verpackung“ gemeint ist, und was es auf sich hat, dass ausgerechnete ein so bedeutsamer Teil des Originals aus der Verpackung heraus bricht.

Zweifellos ist der dargestellte Vorgang inszeniert. Ungesagt bleibt, wer dafür verantwortlich ist. Doch nach aller erklärten Absichtlichkeit ist die Frage nach der Wahrscheinlichkeit sinnlos, sie wird ersetzt durch die nach der Bedeutung.
Die Verpackung eines Gemäldes widerspricht seiner Aufgabe, hergezeigt zu werden; es hängt im Museum, damit man es sieht. Das Museum sollte ja seit dem 18. Jahrhundert bedeutende Kunstwerke aus dem feudalen Besitz herausreißen und der bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich machen. Der Preis für diese Verlagerung war – kurz gesagt -: dass man die Kunstwerke aus ihrem Wirkungszusammenhang herausnahm. Im Museum sah man sie nicht mehr als Schlafzimmerbild, als Portrait in der Ahnengalerie oder als Andachtsbild in der Kirche, sondern als Kunst. Die unterschiedlichsten Bildern passten jetzt zueinander, da man sie auf einen Nenner gebracht hatte: den der Kunst.
So verdarb das Herzeigen das Verbergen. Jedenfalls machte die öffentliche Betrachtung als Kunst fast all das am Bild unsichtbar, was ihm durch seinen Bezug zum Wirkungszusammenhang gegolten hatte. Ein Los, das Picassos „Guernica“ teilt.

Die Gruppe Cronica kritisiert in ihrem Bild von der Verpackung die Rezeption des Kunstwerks als Kunstwerk im Museum. Sie zeigen, dass der politische Gehalt von Picasso Bild sich zur Wehr setzt gegen eine verbergende Zurschaustellung im Museum. In der Warenästhetik ist Verpackung zur gleissnerischen Form der Präsentation eines Objekts geworden, die den Inhalt immer mehr aufzuzehren droht. Das Unverhältnismäßige der Verpackung liegt hier im Gegensatz von Wertlosigkeit von Verpackung und ihrer perfekten malerischen Wiedergabe. Es besticht nicht bloss die technische Brillanz, mit der hier Wellpappe und die Kordel mit ihrem Schatten darauf gemalt ist; einnehmend auch die sanfte Gleichmäßigkeit und Ruhe des sujets, fast ein Meditationsbild aus einer, die Dinge des Alltags bejahenden Stiltradition. So benutzt man eine Kunst, die auf Inhalte verzichtet hat, um die Aufmerksamkeit wieder auf Inhalte zu richten.
Der Friede eines Meditationsbildes ist gestört. Schockhaft hebt sich der „Guernica“-Ausschnitt ab von der inhaltsleeren Fläche des Verpackungsbildes. Mit Hilfe dieses Kontrastes wird Turbulenz und Ernstfall menschlicher Katastrophe im Picassobild neu zu Bewusstsein gebracht.

III.
Ähnlich spielt ein zweites Zitatbild der Gruppe Cronica auf die museal verzerrende Rezeption des Picassobildes an: wieder ist auf einem quadratischen Bild ein Teil aus „Guernica“ zitiert. Dessen linke untere Ecke. Aus dem Armstumpf des toten Kriegers und aus Kopf und Brust des toten Kindes darüber rinnte Blut. Aus dem Arm läuft es über das Bild, von dort über die Mauer, die Holzvertäfelung und sammelt sich auf dem Boden in einer kleinen Pfütze.
Ausdrücklicher als beim Verpackungsbild ist die Museumsthematik angesprochen. Wohl ist das Blut mit Farbe gemalt, und unübersehbar ist, dass wir eben doch ein Kunstwerk vor uns haben, das in einer Ausstellung hängt oder im Katalog reproduziert ist mit der Unterschrift „Gruppe Cronica. Der Sockel, 1969“.
Anfangs aber dominiert der Schock. .Das rinnende Blut – Ursignal von Gefahr – verfehlt nicht seine Wirkung. Doch Blut im Museum, auf einem Bild? Wo Blut fließt, ist es immer frisches Blut. Der spontane Aufmerksamkeitsreflex fühlt sich genasführt. Der Titel des Bildes verschiebt die Aufmerksamkeit auf die Museumssituation. Nicht „Blutspur“ sondern „Sockel“ haben die Maler ihr Bild genannt.
Niemand glaubt, dass aus den Wunden der in „Guernica“ dargestellten Opfer wirklich Blut fließt. Weniger verklausuliert als im Verpackungsbild denunziert dieses Zitatbild die vom Museum praktizierte Trennung von Kunst und Realität. Es ist jener dämpfende Schleier, der dafür sorgt, dass man dagegen, dass der Kunstcharakter des Bilds immer mehr in den Vordergrund getreten ist und sein Inhalt darüber fast vergessen wurde. Dagegen betonen sie, dass blutiger Ernst sei, was Picasso dargestellt hat.

Eine didaktische Provokation also ist es, wenn die 1937 Verwundeten oder Ermordeten aus Picassos Gemälde 1969 wieder als blutend dargestellt werden. So stiften die Spanier eine symbolische und moralische Gleichzeitigkeit. Dies ist weniger rück gewandt als verallgemeinernd zu verstehen; dass immer noch unschuldiges Blut fließe, soll uns ins Gedächtnis gerufen werden. Und dass auch uns das angeht.
Wie in der “Verpackung“ wird in einer Art „Remetapher“ das tatsächlich vergossene Blut wieder optisch eindringlich gemacht. Um im symbolischen Vokabular zu bleiben: diese Wunden sind wieder aufgebrochen, weil die Museumsluft sie nur künstlich vernarben ließ.

IV.
Beim dritten Zitatgemälde, dem „Museumsbesuch“, bekommt man das ganze Bild zu Gesicht, das in seiner Monumentalität einen riesigen Museumsraum beherrscht. Anders als damals im offenen Weltausstellungspavillon ist es hier wie in Einzelhaft den Augen des Besucherstroms entzogen. Die Gitterstäbe oben erinnern an Gefängnisfenster.
Die wenigen Besucher aber, die herankommen, sind zugleich als besondere zu erkennen, als Honoratioren; eine Ehrendelegation von Staatsmänner vielleicht. Jedenfalls Privilegiert, die in einer Sonderführung Gelegenheit zum ungestörten Kunstgenuss haben werden. Freilich: was sie gleich zu sehen bekommen werden, ist so gar nicht die erwartete Unverbindlichkeit eines stillen Kunstgenusses. Mit dem Picassobild sind Veränderungen vorgegangen. Figuren sind aus dem Bild heraus gestiegen. Kopf und Arm des Kriegers liegen am Boden, die laufende Frau eilt den kommenden Besuchern entgegen, und der Licht tragende Arm, übermäßig aus dem Bild herausgewachsen, reckt sich ihnen drohend entgegen, als wolle er ihnen gleich heimleuchten. Realistische Schatten und Leerstellen im Bild an der Wand beweisen Authentizität und bedrohliche Leibhaftigkeit der empörten Teile, die sich von der Leinwand emanzipiert, das Terrain ihrer Wirkung gewechselt haben. Doch ist es der Boden der Tatsachen nicht, um im Vokabular zu bleiben, der sie trägt, sondern noch immer stehen sie4 auf dem Boden der Kunst, im Museum. Die Frage also, ob ein so exklusives Medium wie das Tafelbild am Ende nicht hilflos bleibt, an einem politischen Kunstwerk wieder gut zu machen, was die museale Rezeption ihm angetan hat.

(zuerst veröffentlicht in: „Guernica. Kunst und Politik. Picasso und der Spanische Bürgerkrieg. Berlin 1975)

Mittwoch, 10. März 2010

Das Aug’ als Konstrukteur



Zu Günter Wagners Plastiken

So paradox es klingt: viele dieser Plastiken sind zweidimensional. Wagner hat eine Vorliebe für Geometrie. Fläche, Platte, Scheibe, Band sind sein Ausgangspunkt. Ein weiteres Prinzip kommt hinzu: die Komposition aus zwei unterschiedlichen Materialien. Früher waren es schwarzer Granit und glänzender Chromstahl, seit einigen Jahren sind es Stahl, durch Rost warm getont, und Glas. Formbar ist bei Glas nur der Umriss, die Linie: geometrisches Prinzip also auch hier. Als Konstruktivist erbaut Wagner seine Volumina aus der Fläche. Die Deformation des Stahls bleibt jedoch moderat – bloß keine manieristischen Verrenkungen; jede autobiographische Selbstfeier ist abgewendet – bloß keine Gefühlsausbrüche; obwohl Handwerk vom ersten bis zum letzten Arbeitsgang: die Handschrift ist getilgt – bloß keine Geburtsspuren. Nur das Ergebnis zählt. Erstaunlich, wie unter seiner Hand das Schwere leicht scheint, das Starre bewegt und das Flache gefüllt.

Ich meine, zwei unterschiedliche Kompositionsverfahren beobachten zu können. Das erste, das geometrische, teilt auf: einen Satz auf zwei Sprecher. Als zöge einer mit dem Bleistift eine Linie. Das letzte Drittel dieser Linie radiert er wieder aus und ersetzt den Bleichstiftstrich durch einen mit dem Farbstift. Nichts hat sich geändert, die Länge nicht, die Richtung, im Idealfall nicht einmal die Dicke des Strichs. Warum ist dennoch alles anders geworden? Wenn Wagner den Ausläufer eines Stahlloopings mit einem präzise angepassten Glasband zuende bringt, dann ist der Verlauf der Form „korrekt“, und doch ist sie verändert. Schwer zu sagen, was wir sehen: Bruchstelle oder Naht?

Die zweite Methode ist stereometrisch. Die beiden Materialien – Glas und Stahl - werden nun nicht sukzessiv verbündet, sondern synchron. Sprechtheater wird zum Musiktheater erweitert. In solch einem Duett durchdringen sich in Wagners Plastiken Stahl und Glas, sie ergänzen sich, formulieren sich zu Ende, errichten im Dialog einen Raum, steigern sich bis zur Architektur. Das Material wird durch die Verformung leichter, es erhebt sich. Was am Boden lastet, bäumt sich auf: zur Brücke, zur Architektur. Die Berührungsfläche mit dem Grund wird geringer, der Stand geistiger, wir erleben den aufrechten Gang.

Ich empfinde die vollendete Harmonie der weichen, sanften Schwünge in Günter Wagners Arbeiten als ebenso provokant wie das Gewalttätige in ihnen. Mich beunruhigt, wie das zerbrechliche Glas sich in den Stahl einritzt, sich in eine Umarmung begibt, die starres Stillhalten erzwingt. Penetration, die mit der Vernichtung spielt?
Die Harmonie in Wagners Kunst ist voller Gefährdung. Eine Kleinigkeit schon, bangt man, wird die Glastürme einfach umwerfen, wird die hybriden Architekturen zum klirrenden Einsturz bringen. Die Sorge, sich selbst zu verletzen oder das Kunstwerk zu beschädigen, hält in Distanz. Für die Augen geschaffen, dem rationalsten unserer Sinne, nicht für den dumpfen, körperhaften Tastsinn, stellen uns Wagners Plastiken die harmonia mundi in Aussicht: zum Greifen nah und doch nichts, was man mit Händen halten könnte.

Spielt Wagner mit diesem Widerspruch? Vermutlich ist er jenes Element der Anziehungskraft, das in Ausstellungen den Besucher bannt. Als etwas Fremdes, Ungesehenes umkreist er die Werke, erprobt dabei die zahllosen Perspektive. Freilich in gehörigem Abstand: Das noli mi tangere der Wagnerschen Plastiken verfehlt selten seine Wirkung.
Glasspitzen, Glaskanten, auch die rostige Oberfläche, das lädt nicht zum Drübenstreichen ein. Wagner konstruiert keine Objekte für lüsterne Handflächen, neugierige Fingerspitzen, vorwitzige Fingerknöchel. Seine Plastiken streichelt man nicht, begrabscht man nicht, lässt man nicht anklopfend erklingen. Man schaut sie an. Sie sind für die Augen da. Und für sonst gar nichts.

(zuerst veröffentlicht im Ausstellungskatalog
Galerie Wegmann, Grafing/München 1994)