Freitag, 26. Oktober 2012

Samstag, 20. Oktober 2012

Samstag, 13. Oktober 2012

Reisebriefe 37

37.
Sie war vor mir da. Ich weiss nicht, warum ich mich so nah neben sie setze. Um die Zeit sind noch viele Tische frei; die Leute sind einkaufen oder schlendern plauschend auf dem Marktplatz herum, schauen sich die kleinen Fundstücke der Flohmarktstände an. Hier also, zum Greifen nah, nein, in Wahrheit wie auf einem anderen Planet diese Frau. Ein wenig mollig ist sie, finde ich. Himbeerfarbig der Pulli und der Schal dazu, eine kleine Frau, bestimmt nicht nur im Sitzen. Hinter ihrer dicken Sonnenbrille schaut sie direkt zu mir, dreht an ihrem schwarzen, leicht gekräuselten Haar. Die rechte Hand zwischen ihren Schenkeln vergraben. Ihr Mann liest wortlos die Zeitung oder telefoniert. Hinter beiden ein Kinderwagen, und sie? Schon wieder schwanger?
Durch das Spiegelschwarz ihrer Sonnenbrille wehen  spinnwebenfein zwei Drähte zu mir herüber, haken sich in meinen Augen fest. Ich halte still, um sie nicht zu zerreißen, halte den Blick in ihre Blicknacht hinein. Und dann schickt sie mir an den Drähten entlang Buchstaben herüber. Ich muss  blinzeln, als sie bei mir aufprallen. Sie sind handschriftlich, hastig gekritzelt und wenn mich mein Italienisch nicht trügt, fehlt ein Buchstabe beim zweiten Wort.  Ah, da kommt er nachgereicht. Was schreibt sie? Ich muss schmunzeln, als ich es endlich entziffert habe.
„Ich habe kein Interesse an dir.“
Sehr gut. Jetzt darf ich keinen Fehler begehen.
„Auch ich interessiere mich nicht für den Duft deiner Haare“, schreibe ich zurück. Sie hat ebenfalls einige Schwierigkeit mit meiner deutschen Handschrift, doch als sie den Text verstanden hat, lässt sie rasch ihre Haare los. Ein wenig verblüfft, wie einer, der auf ein Selbstgespräch Antwort erhält.

Wie lange sie zögert, hab ich schon verspielt? Sie steht auf, fummelt am Kinderwagen herum, dabei schläft das Kind doch. Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl. Schaut auf ihren Mann; der liest die Zeitung. Und dann schickt sie mir doch wieder eine Nachricht. Diesmal in Druckbuchstaben.
„Meine Haare duften nur, wenn der Wind sie verweht.“
„In der Windstille könnte ich mir ein Nest hineinbauen?“
„Nein“, schreibt sie, „nein!“ und hebt für einen Augenblick die Brille von den Augen; sie sind so schwarz wie die Brille. Ich will eben antworten, da wischt ihr Mann die Zeitung zusammen, mit großer Gebärde und springt auf. Er tritt zwischen sie und mich, zerreißt unsere Drähte.

Reisebrief 36

36.
Du weißt, ich trinke nachmittags keinen Wein; du hast dich oft genug über mich mokiert, dass ich erst nach acht Uhr das erste Glas fülle. Was ich dir hier beschreibe, ist mir so gegen vier Uhr widerfahren.  Ich las Zeitung und hatte nicht gemerkt, dass am Tisch nicht weit von meinem eine junge Frau im Cafè Platz genommen hatte.  Wohl schon vor einer Zeit, denn als ich sie bemerke, hat sie ihren Kaffee schon halb leer getrunken. Sie sitzt da, über ihr Notizbuch gebeugt, dass die herabquellen Haare ihr Gesicht verbergen. Sie schreibt. Mit einem Füllfederhalter. Als sie sich aufrichtet, um einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse zu nehmen, wischt mein Blick durch sie hindurch. Als würde ihr Körper einen Augenblick wie im Nebel fernrücken, dünn werden, nein, leer werden. Wie ein Baum im Nebel kraftlos wird, entschwindet, sich mühsam wieder sammelt, wenn man ihm näherkommt.
Ich blicke mich um, niemand zeigt Verwunderung oder vermehrte Aufmerksamkeit, niemand blickt zu ihr hin.
Ich suche nach Erklärungen: Lichtschwankungen? Schatten? Meine Müdigkeit? Draußen ist gleichmäßiges Regengrau, hier drinnen das weiche Goldgelb der zahlreichen gedimmten Lampen. Und ich sehe ihren Tisch, ihre Tasse, ja sogar ihr Tagebuch klar und scharf und deutlich. Fast bilde ich mir ein, das Kratzen ihres Füllers zu hören. Und jetzt beginnt sie wieder zu verblassen. Wie in einer langsamen Überblendung verdämmert ihr Körper, taucht die Stuhllehne hinter ihr auf und die Wand dahinter, die ihr Leib eben noch verdeckt hatte. Während ich noch hinstarre, zerrinnt der Nebel und ihr Körper kehrt zurück. Ich finde, sie ist dick.

Reisebrief 35


35.
Glaub mir, ich hatte sie fast schon als Freundin gesehen. Schon unten an der Haustür, als sie nach meinem Klingeln in die Gegensprechanlage „Im vierten Stock, leider“ sagte; leise aber seltsam verbindlich und – entschuldige – irgendwie mütterlich. Als ich die Treppen hoch geschnauft kam; im dritten Stock dachte ich, das ist jetzt eigentlich hoch genug, stand sie schon an der Tür, die sie aber nur einen Spalt geöffnet hatte. Ich muss sie allzu prüfend angestarrt haben – die Stimme war einladender gewesen als jetzt ihr Blick – da öffnete sie die Tür ganz, lächelte und fragte, fast heiter: „Wollen Sie sich erst draußen verschnaufen?“ Und nun klang ihre Stimme, ohne die Verdünnung durch den Lautsprecher, wie soll ich sagen? Sie klang cellowarm, fast tröstlich. Ich sehe dich feixen; du hältst mich wieder mal für sentimental. Wie auch immer, diese Stimme löste einen Wirbel von Behagen in mir aus. Ich packte ihre Hand mit meinen beiden Händen; sie war warm und weich aber sie zog sie rasch zurück. Ein wenig irritiert, wie mir vorkam, über meine übertriebene Herzlichkeit. Wir hatten uns ja noch nie gesehen.

Ich folgte ihr durch einen kurzen, schmalen Korridor in das Zimmer. Er war hell von den beiden Fenstern zum Hinterhof. Viele Bücher, in Regalen, auf dem runden Tisch am Fenster, neben dem großen roten Sofa. Die Schränke waren dunkel, mächtig, sahen geerbt aus. Und in der linken Ecke führte eine steile Treppe, ein wenig gedreht nach oben.
„Die Sonne scheint noch so warm“, sagte sie, „wollen wir den Kaffee auf der Terrasse trinken? Gehen Sie doch schon mal voran.“ Meine Hilfe schlug sie ab, deshalb stieg ich, ein wenig unsicher – treppab sollte es noch halsbrecherischer sein – hinauf. Oben ihr Schreibtisch, sehr aufgeräumt (wenn ich an meinen Urwald denke), ein großes Bett und wieder Bücher, überall Bücher. An dem weiß gestrichenen Balken quer durchs Zimmer klebten viele Bildchen im passepartout, ohne Rahmen. Zur Terrasse führte ein hohes Fenster, das sich öffnen ließ. Ein herrlicher Blick: über die Dächer, hinunter in den  bepflanzten Hinterhof und hinein in einige Wohnungen gegenüber. Das Tischchen war schon gedeckt, geschmackvolle Papierservietten lagen auf den Tellern. Und dann kam sie auch schon mit einem Tablett. Ich sollte auf dem Platz sitzen, der durch den kleinen Sonnenschirm Schatten bekam. Etwas geniert schob sie den Wäschetrockner in die Ecke und nahm endlich auch Platz. Sie schaute mich aufgeregt an und fragte: „Und wo haben Sie sie nun gefunden?“ Ehe ich antworten konnte, schlug sie sich leicht auf den Mund und sagte: „Nein, wie ungezogen von mir. Sie müssen mir meine Ungeduld schon verzeihen. Erst trinken wir Kaffee. Den Pflaumenkuchen hab ich selber gebacken, er ist noch warm, dass Sie sich bloß nicht verbrennen.“
Wir aßen und tranken, der Kuchen war übrigens sehr schmackhaft. Ich lobte den knusprigen Boden, da errötete sie leicht und sagte: „Sie müssen ihn nicht aufessen, wenn er Ihnen nicht schmeckt,- ich bin keine große Kuchenbäckerin.“ Sie hielt die Augen gesenkt, als wollte sie mir Gelegenheit geben, sie ungestört zu betrachten. Sie hatte üppiges schwarzes Haar, das ihr fast etwas von Mähne verlieh. Ein zartes Gesicht, das mir sehr ernst vorkam, einen schön geschwungenen Mund, das Kinn ein wenig kurz und sehr schöne, tiefe Augen, na so sagt man halt, da musst du nicht schon wieder feixen.
„Stört es Sie, wenn ich eine Zigarette rauche?“, fragte sie mich, „aber bitte“, wehrte ich ab und hob meine Hände, „Sie sind hier zu Hause.“ Rücksichtsvoll blies sie den Rauch von mir weg, - was wie du weißt nichts nützt, denn Rauch hält sich nicht an den Wind sondern zieht immer zum Nichtraucher hin.
Ich nutzte diese kleine Pause und kramte das Päckchen heraus. Ich hatte die Brille mit dem schönen roten Gestell in Seidenpapier eingeschlagen und eine weiße Rose rangebunden. Die war nun leider ein wenig verdrückt. Ich legte das Päckchen auf den Tisch und strahlte sie an.
Wieder wurde sie ein wenig rot, roch dann an der Rose und sagte, fast streng: „Sie hätten nicht auch noch Geld ausgeben dürfen für mich.“ Ein wenig irritiert wartete ich, dass sie das kleine Paket endlich aufschnüren würde; ich hatte innen noch ein Gedicht reingelegt. Aber sie sagte nur: „Vielen Dank. Sie wissen nicht, welch großen Gefallen Sie mir damit erwiesen haben. Ich habe ja nur diese eine Brille und ohne sie kann ich nicht lesen,- und ich lese so gern, das sehen Sie selber“. Und dann legte sie das Päckchen mit Rose und Brille und dem unsichtbaren Gedicht auf ihren Schreibtisch und setzte sich wieder zu mir an den Tisch.

Ich hatte die Brille wirklich durch einen Zufall gefunden. Du weißt, ich gehe gern in den kleinen Park am Fluss. Da sitzt man auf einer Bank, hinter sich die Bäume, vor sich das Wasser. Man kann gut lesen und wenn ein Schiff mit Ausflüglern vorbeischwimmt, dann winkt man halt auch ein wenig. Ich weiß nicht warum, vor ein paar Tagen hatte ich plötzlich die Idee, mal wo anders hin zu gehen. Mignon hatte mir immer vom Dings, na wie heißt der Park gleich wieder, jedenfalls von einem Park mit Flohmarkt und einem altmodisch eingerichteten Café vorgeschwärmt. Dahin hab ich mich durchgefragt und am Ende hab ich den Platz doch noch gefunden. Sehr hübsch. Der Flohmarkt hat mich einiges Geld gekostet – aber nur schöne Sachen! – und danach hab ich mich mit meiner Beute auf eine der bunt bemalten Parkbänke gesetzt. Und da lag, unübersehbar, ein hübsche rote Brille darauf. Ich weiß auch nicht, warum ich sie eingesteckt habe; bestimmt nicht, um sie zu behalten. Eine Lesebrille, wie ich sehen konnte, aber die habe ich selber und so hübsch fand ich sie nun auch wieder nicht. Natürlich hab ich mich umgeschaut; es war schon recht spät und niemand war mehr zu sehen. Zum Lesen war es auch schon zu schummrig, - ich will’s kurz fassen: am nächsten Tag pilgerte ich, die Brille in meinem Rucksack, wieder da hin. Und da hing doch tatsächlich ein Zettel an der Bank, zierlich mit Füller geschrieben (oder gar mit Feder?): „Brille verloren. Bitte, bitte, wer kann mir helfen?“ Daneben war eine hübsche Zeichnung, mit Buntstift, von eben dieser roten Brille und eine Adresse, wohin sich der ehrliche Finder wenden möchte...

Allmählich kamen wir doch ins Gespräch, sie taute auf, lachte herzhaft und ich aß viel mehr Pflaumenkuchen als ich verkraften konnte, weil ich Angst hatte, wenn ich fertig bin müsste ich gehen. Sie lebte allein in der Wohnung und wohl auch sonst, aber sie wich Fragen nach ihrem Leben immer aus. Wiederholt entschuldigte sie sich und ging hinunter, vermutlich zur Toilette. Als sie einmal länger ausblieb, ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, ging ich ins Zimmer hinein und schaute mich um. Es war alles so reinlich, so klug geordnet, obwohl in den Ecken und unter der Schräge des Zimmers in den Ecken mancherlei Verstecke waren: für Kleider, - für Bücher? Über dem Bett eine schöne Tagesdecke, so dass das Bett nicht als Bett wirkte, jedenfalls irgendwie keusch? Wo die Zimmerdecke schon tief nach unten reichte war ein niedriges Tischchen, Kerzen drauf und eine kleine, verschlossene Schachtel. Du weißt, ich schnüffle nicht in anderleuts Sache rum. Mehr weil sie so alt und so hübsch war öffnete ich die Schachtel und war verdutzt: da lagen ein halbes Dutzend dieser roten Brillen drin. Und ein Päckchen, mit einem grünen Band verschnürt – diese Zettel mit „Brille verloren usw“, wie ich sie auf der Parkbank gefunden hatte.
Vielleicht war ich zu verwirrt; ich hörte sie erst die Treppe hochkommen, als sie schon fast oben war. Sie muss noch bemerkt haben, wie ich versuchte die Schachtel hastig wieder zu schließen, natürlich klemmte sie. Ich schob sie nach hinten, drehte mich um und sagte dann doch wirklich – ich hätte mir selber eine runterhauen können dafür – scheinheilig: „Hübsch haben Sie’s hier.“ Sie gab keine Antwort und setzte sich wieder hinaus. Ich hatte verspielt, das merkte ich gleich an ihrer Stimme. Wie soll ich dir’s erklären? Wenn man am Computer bei einem Foto die Farbe wegdreht – aller Schmelz, alles Wohlwollen war aus ihrer Stimme verschwunden. Da war nichts mehr zu retten.

Beim Runtergehen, ich hielt mich schissrig am Geländer fest, wäre ich am Ende – da gab es auf den letzten beiden Stufen eine fiese Biegung nach links – beinahe gefallen. Sie öffnete mir die Tür und schaute mich großäugig an. Als sie die Tür von innen zusperrte, stand ich immer noch davor. Halblaut, mehr für mich, sagte ich leise: „Es tut mir so leid“, aber ich glaube, das hat sie nicht mehr gehört.
Herzliche Grüsse, dein alter J.