Montag, 28. Februar 2011

12.
Ich bin nicht oft in der Stadt; es ist doch recht weit bis dahin, außerdem ist es mir zu wuslig dort. Und so wirklich viel gibt es auch wieder nicht zu sehen. Wenn nicht die schönen Cafès wären. Aber auch da ist man nicht von Überraschungen sicher.
Ich sitz neulich in meinem Lieblingscafé am Tiefen See; so heißt der und Café hat seinen Namen auch von ihm. Wenn man nicht auf der Terrasse sitzen kann, ist es auch drinnen sehr behaglich: bequeme Holzstühle mit bunten Kissen drauf, davor runde Tische mit einer Marmorplatte,- seegrün.
Ins Café kommt eine junge Frau, - nun: ganz jung ist sie nicht mehr, sie geht auf mich zu und fragt freundlich, ob sie sich auf meinen Platz setzen dürfe, den ich angewärmt habe.
Verdutzt krame ich meine Siebensachen zusammen, schiebe sie auf die andere Seite des Tisches und setze mich dort wieder hin. Der Platz fühlt sich fremd an. Auch die schöne Aussicht hinaus auf den See hab ich nun nicht mehr.
Sie nimmt Platz, auf meinem Stuhl und sagt wohlig seufzend: „O ja, das ist angenehm warm.“ Dann holt sie ein Buch aus ihrer Tasche und beginnt zu lesen. Ich bemühe mich, nicht zu ihr hinzuschauen. Sie hat was, auch wenn sie nicht umwerfend schön ist. Unaufgefordert stellt ihr die Kellnerin eine Tasse Tee hin. Ohne von ihrem Buch aufzublicken sagt sie sehr freundlich: „Du hast die Milch vergessen, meine Liebe.“ Als die Milch kommt, macht sie eine kleine Gebärde und die Kellnerin stellt das Glas auf meiner Seite auf den Tisch. Ich will sie grad zu ihr hinüber schieben, da legt sie ein Lesezeichen in ihr Buch, klappt es zu und sagt mit einem verbindlichen Lächeln zu mir: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch mal den Platz mit mir zu tauschen?“ Als ich ein wenig irritiert lache, fügt sie hinzu: „Jetzt haben Sie den doch auch angewärmt, nicht wahr? Das ist nämlich eigentlich mein Lieblingsplatz“.
Amüsiert kehre ich zu meinem ursprünglichen Platz zurück. Er kommt mir nun seltsam kalt vor, als hätte sie alle Wärme in sich eingesogen.
Ich bin verabredet, muss schließen. Bald mehr.
J.

Sonntag, 27. Februar 2011

11.
Kannst du mir noch mal verzeihen? Oder hast du mich schon aus deiner Liste der zuverlässigen Freunde gestrichen? Ich geb’ zu, diesmal hab ich zulange gewartet, aber – deine Briefe kommen auch nicht gerade auf mich herabgeprasselt. Aber ich will mich damit nicht herausreden; es war hier einfach zu turbulent. Und du kennst es ja selber: wenn man erst anfängt, Briefe zu verschieben, dann staut sich der Stoff und ich kann dir versichern: ich hab seit meinem letzten Brief an dich soviel erlebt, ich könnte ganze Romane damit füllen.

Ja, wo fang ich nun an? Am Besten mit heute, am besten mit meinen Schmetterlingen. Hab ich dir – nein, natürlich nicht. Also: bei uns in Deutschland gibt’s die Brieftauben, freilich auch schon recht selten, vermutlich nur noch als Sport von verbohrten Vereinen; einen normalen Brief bekommt man auch bei uns nicht mit so einer Taube befördert. Hier tun das die Schmetterlinge. Aber man kann nicht von Schmetterlingsbriefen sprechen oder von Briefschmetterlingen. Das ganze System ist von unsrem grundverschieden. Wenn ich recht informiert bin, dann hängt man bei uns so einer Taube ein Röllchen mit Text an den Fuß und lässt dann das Tier fliegen; nach Hause, in seinen Heimatstall. Nein, man spricht ja von Taubenschlag. Du weißt, was ich meine. Mit den Schmetterlinge läuft das hier anders. Die „Nachricht“ tragen sie auf ihren Flügeln. Ich hab das Wort „Nachricht“ in Anführungszeichen gesetzt, weil das, was diese Schmetterlinge transportieren – nicht alle übrigens tun das – nicht normale Texte sind. Klar, soviel hat auf den zwei Flügeln gar nicht Platz. Es sind – sagen wir mal – Chiffren, Bildzeichen, jedenfalls keine Wörter. Zum Schreiben nutzt man Stifte; die kann man kaufen und damit bezahlt man zugleich auch das „Porto“.
Es gibt hier zahlreiche Schmetterlinge, viel viel mehr als bei uns; wunderschön in den Farben, bizarr in den Formen und ich hab einige Zeit gebraucht, bis ich unter ihnen die „Briefschmetterlinge“ herausfand. Denn alle setzen sich auf deinen Handrücken, wenn du ihn ruhig hinhältst. Aber nur bei den echten, den Briefschmetterlingen, kannst du mit diesem Stift auf den Flügeln kleine Veränderungen vornehmen. Der Haken: diese Muster haben eine feste Bedeutung, die man erlernt. Sie „bedeuten“ aber nicht so etwas wie bei uns randscharfe Begriffe, sondern arbeiten etwa so wie bei uns die Symbole; du kennst sie vielleicht auf Tarotkarten? Ich geb’ zu, sehr weit bin ich mit diesen Bildern und ihrer Bedeutung noch nicht gekommen. Selbst hier – hab ich mir sagen lassen – studieren manche Gelehrte ein Leben lang, wie sie die Tiefe und Vielfalt dieser Bilder deuten könnten.
Und noch ein zweites ist verschieden von dem, was wir mit Briefen verbinden. Sie sind nicht an einen bestimmten Empfänger gerichtet. Da würden die Schmetterlinge eh’ nicht mitspielen. Die Kunst des „Schreibers“ besteht darin, ein bedeutsames, schönes, vielfältiges Zeichen zu „schreiben“. Der „Leser“ aber muss seinerseits kompetent sein, dieses Zeichen möglichst weitgehend zu entziffern. Und was draus machen. So sind diese Briefe ein offenes Kunstwerk, ein Angebot zum Genießen, zum Grübeln, zum Kommentieren. Falls man überhaupt eine Ader für so was hat. So hab ich es mir wenigstens zurechtgelegt. Ich versteh ja inzwischen schon vieles, kann einiges sagen, aber leicht ist diese Sprache hier für uns ganz und gar nicht.

Ab sofort will ich wieder regelmäßiger schreiben, versprochen. Ich hab ja noch sooooviel nachzuholen.
Bleib mir gewogen und lass von dir hören.

P.S.:
Es gibt weniger Schreiber als Leser und auch nicht alle Leute können oder wollen sich mit so einer Botschaft beschäftigen, die per Zufall dahergeflattert kommt. Und Mühe macht.

Samstag, 26. Februar 2011

10.
Heute hab ich mir eine Auszeit gegönnt; na ja, gegönnt, das klingt so edel, so souverän: in Wahrheit war ich so wacklig auf den Beinen, dass mir gar nichts Anderes übrig blieb. Ich verbringe heute einen Tag auf dem Balkon und weil ich Glück habe, den ersten warmen, seit ich hier bin. Meinen Brummschädel lassen wir mal außer Acht, die zittrigen Beine auch. Die zahllosen Kratzer an den Armen, im Gesicht und sogar am Bauch versorgte meine Minjonn auf rührende Weise mit einer Supercreme, deren Bestandteile sie mir wie immer wortreich erläuterte. Sie stinkt; man kann es nicht anders sagen. Ich hoffe, sie heilt. Jedenfalls kühlt sie angenehm und ich kann mich nun schon behaglich in der Sonne räkeln. Neben mir steht ein Tablett mit einem vergrößerten Frühstück, das den ganzen Tag abdeckt. Ein paar unbekannte Früchte und eine Art Knäckebrot, aber sehr würzig und nicht so staubtrocken wie wir es bei uns kennen.
Zuerst dachte ich schon, nun hab ich die Kleine den ganzen Tag auf dem Hals. Aber nachdem sie mir das üppige Frühstück auf ein Tischchen hinausgestellt hatte und nach der – ein wenig ruppigen – Becremung meiner Heckenkratzer zog sie sich zurück und ist bis jetzt noch nicht wieder aufgetaucht. Ach ja, einen wunderbar aromatischen Tee, keine Ahnung, was da wohl für Kräuter drin sind? hat sie mir auch noch hingestellt.

Erst mal wieder auf die Beine kommen, dachte ich mir, nicht zu grundsätzlich grübeln. Dass auf dem Balkon diese Kröte herumkroch, macht mir den Vorsatz ein wenig schwer, aber ich kann ja die Augen schließen.
Was für eine tiefe, oder soll man lieber sagen: hohe Stille. Jedenfalls eine mit viel Raum. Es klingt seltsam anders als auf meinem Balkon zuhause. Gibt es hier ganz andere Vögel? Der Wind in den Blättern der Bäume kann doch eigentlich auch nicht anders rauschen. Vielleicht liegt’s daran: Jedes technische, industrielle, soll man sagen: menschliche? Geräusch fehlt. Kein Auto, kein Motor, kein Flugzeug. Auch nicht das bei uns ja nie verstummende Grummeln der Großstadt. Ich schlafe immer wieder mal ein, aber fast scheint mir, als ob mich die Stille wieder aufweckte. Zwischendurch musste jemand da gewesen sein, ohne dass ich es bemerkt hatte: der Tee war erneuert worden und ein bisschen frisches Obst war hinzugekommen. Es ist mir seltsamerweise gar nicht unbehaglich. Das mit der Kröte, nahm ich mir vor, werde ich so bald wie möglich klären. Wenn doch dieser nette Alte von neulich Abend, mit dem ich die Suppe gelöffelt hatte, wieder käme; der einzige, mit dem ich mich verständigen kann.

Jetzt wird mir die Sonne, auf dem windgeschützten Balkon fast zu warm. Reingehen mag ich auf keinen Fall, aber den Brief breche ich ab. Die schönen Geräusche hören sich schon wieder so wolkig an, wie unter einer Decke, ich werde wohl gleich wieder einnicken. Rasch noch einen lieben Gruß an dich. Schreib mir.
J.

Freitag, 25. Februar 2011

Donnerstag, 24. Februar 2011

9.
Na, weit bin ich ja nicht gekommen bei meinem ersten Ausflug durch die Insel. Es ist aber auch wirklich zum kotzen, entschuldige, dass ich mich nicht verständigen kann. Aus der Wirtin ist überhaupt nichts Sinnvolles rauszukriegen. Sie grinst immer nur, quatscht irgendwas ohne zuzuhören und nickt bei jeder Frage von mir eifrig und freundlich mit dem Kopf. Wie drückt man durch Zeichensprache aus, dass man in die nächste Stadt will, um sich dort umzuschauen?? Irgendwann hab ich die Tür zugeknallt und bin wütend auf gut Glück einfach losgezogen. Diesmal in die andere Richtung, also weg vom Fluss. Aber da kam ich auch nicht weit. Schon bald stand ich vor einem Dickicht, kein Weg mehr, dicke Brombeerhecken, da war kein Durchkommen möglich. Ich lief eine Zeitlang quer zu diesen Hecken, aber dann hatte ich plötzlich das ungute Gefühl, dass der Boden unter mir anfing zu federn oder zu schwingen. Sumpfuntergrund, und da bekam ich es natürlich mit der Angst zu tun. Umkehren ging auch nicht so leicht; ich hatte mich natürlich schon lange verlaufen. Es war bewölkt, am Sonnenstand konnte ich mich auch nur mühsam orientieren. Ein blödes Gefühl. Als ich dann, leider nicht sehr nah, so etwas wie Rauch aufsteigen sah, kam ich mir schon fast vor wie gerettet. Durch die Sträucher – frag nicht, wie ich ausseh’ und erst recht nicht, wie Hose und Jacke – kämpfte ich mir einen Pfad in Richtung dieses Rauchs. Zum Glück hatte ich meine dicken Lederhandschuhe dabei. Tatsächlich sah ich nach einiger Zeit ein Hüttchen, aus dessen Kamin dieser Rauch aufstieg. Als es in Sichtweite kam, ich war schweißgebadet, zerkratzt und mein Atem pfiff keuchend durch die Anstrengung. Mir war unheimlich. Gleich, dachte ich, wird ein riesiges Hundsvieh auf dich zustürzen; der sieht hier doch nie jemandem, der wird mich bestimmt nicht mit Schwanzwedeln begrüßen. Entsprechend zaghaft rief ich: „Hallo“. Ist eigentlich ziemlich beknackt, aber was soll man in so einer Situation sonst rufen? Und tatsächlich kam bald drauf ein kleines, in meinen Augen uraltes Männlein aus dem Haus und schaute verwundert. Aber nicht unfreundlich, schon gar nicht feindselig oder sonst wie bedrohlich. Er kam mir sogar entgegen und half mir die letzten Schritte aus dem Gestrüpp heraus auf die Lichtung vor seinem Häuschen. Ich machte irgendwelche Begrüßungsgesten, er aber schaute mich nur groß an. Endlich schlug er mit seiner linken Hand an seine rechte Schulter. Wohl seine Art der Begrüßung. Und schon fing er an, zu babbeln, es klang wie bei Minjonn, nur rauer, kehliger. Vermutlich wollte er wissen, wer ich bin und woher ich käme und was ich bei ihm hier im Dickicht suche. Als er merkte, dass mit Sprechen bei mir nichts zu machen war, nahm er mich an der Hand und zog mich freundlich in seine Hütte hinein. Ich sah nicht viel, es war recht duster da drin, kein Licht als das bisschen, das durch das kleine Fensterchen drang. (Spinnwegenvorhang!) Er drückte mich auf einen Holzstuhl, vor einem Tisch. Besonders sauber war der nicht, das sah ich sogar in dem Halbdunkel. Und schon kam er mit einer Flasche und zwei Gläsern an (die waren auch schon lang mehr nicht gespült worden) und schenkte uns ein. Obwohl ich nur vorsichtig nippte, zuckte ich zurück: grauenhaft scharf und so hochprozentig, dass ich dachte, nein fühlte: jetzt schmilzt meine Zunge. Er lachte sie kaputt über meine Reaktion und deutete mir an, er machte es mir vor: das Glas müsse man mit Schwung auf einen Satz austrinken.
Ich hab’s überstanden, auch das zweite Glas; beim dritten war mir eh schon alles egal. Ich klopfte ihm auch auf die Schulter, wenn er das bei mir tat, die Stimmung war riesig: zwei besoffene Alte.-
Mit einem letzten Aufwallen meiner Vernunft, meines Widerstands steckte ich, um ihn am nochmaligen Nachschenken zu hindern, das Glas einfach in meine Hose. Da fiel er fast um vor Lachen. (Was der wohl von mir dachte?). Wir waren jetzt also Freunde. Er beugte sich vor, senkte die Stimme und erzählte mir irgend ein Riesengeheimnis. Zwischendurch wollte er immer wieder mal wissen, ob ich ihn auf verstünde (so kam es mir vor) und ich nickte eifrig und dachte dabei: ich hab lauter Kugeln im Kopf, die prallen bei jeder Bewegung von vorne nach hinten und fürchterlich scheppernd wieder zurück.
Nach dieser längeren Rede verschwand der gastfreundliche Alte im Nebenraum; ich hörte ihn rappeln und kramen. Mein Körper fühlte sich an wie flüssiges Blei, nur begann der Verstand langsam wieder zu arbeiten: nein, ich hatte nur einen einzigen Gedanken: wie komm ich bloß in die Herberge zurück?
Er tauchte endlich wieder auf, mit einem Beutel, nein, einem Tuch, übrigens ein wunderschöner alter Stoff. Legte das Bündel auf den Tisch; es klang hart, als hätte er laute Steine eingewickelt. Als er das Tuch zurückschlug, da lagen da wirklich ein halbes Dutzend Steine. Faustgroß die meisten, einige größer, einige kleiner. Rund, dunkel, wie frisch aus der Erde gebuddelt, moosig, alle ziemlich rund. Ich schloss aus seinen Worten, dass ich mir einen Stein aussuchen solle. Na sauber, dachte ich, auch noch einen Stein im Rucksack, ich hoff, er kennt einen besseren Weg zurück zum Hotel. Ich tippe von einem auf den anderen, um ihm zu zeigen, dass ich nicht wüsste, für wen ich mich entscheiden solle. Er packte meine Hand und drückte sie auf einen besonders schön runden. Er fühlte sich kalt an, aber irgendwie passte er gut in meine Hand. Er lobte meine Entscheidung, die nun wirklich nicht meine war und stand auf. Er kam mit einem eisernen Hammer zurück, richtig groß und einem Holzbrett. Er packte die restlichen Steine sorgsam zurück in das Tuch und legte das Bündel vorsichtig auf den Boden. Dann bot er mir den Hammer an, aber ich begriff natürlich nicht, was ich damit machen sollte. Da holte er selber aus und donnerte den Hammer mit Wucht und gut gezielt auf den Stein. Der brach entzwei und zu meinem Entsetzen hüpfte eine lebendige Kröte heraus aus. Das ist der Schnaps, sagte ich flüsternd. Er nickte eifrig und versuchte meinen Satz zu wiederholen. Das ekelige Tier kroch bis zum Tischrand, er schubste es zurück in die Mitte. Verdammt gute Trick, lallte ich mühsam und wieder versuchte der Alte, begeistert, meinen Satz nachzusprechen.
Den Rest will ich dir heute ersparen, ich kann ja gelegentlich mehr davon berichten,- wenn es dich interessiert, obwohl ich dir ehrlich sagen muss: wie ich zurückkam ins Haus und in mein Bett, weiß ich selber nicht. Das Schaurige war nur: als ich am nächsten Morgen mit einem kosmischen Brummschädel endlich erwachte ( es war schon taghell), da kroch diese Kröte, nein sagen wir vorsichtiger: da kroch eine Kröte auf dem Boden vor meinem Bett durch den Raum. Ein mieses verwarztes Monster en miniature.

Jetzt kommt erst mal ein paar Tage keine Nachricht von mir; ich glaub, ich muss erst ein paar Sachen auf die Reihe kriegen. Bis dahin: allerhand freundliche Grüsse.
J.

Mittwoch, 23. Februar 2011

8.
Bin ich am falschen Platz gelandet? Zu sehr am Rand oder wie soll ich das nennen, da ich noch keinerlei Überblick habe. Außer dem Schloss auf der anderen Seite des Flusses gibt es hier offenbar aber auch gar nichts Sehenswertes. Also nichts, was wir im allgemeinen darunter verstehen: Gebäude, Museen, Plätze, Strassen. die unvermeidlichen Buchhandlungen, die Cafés. Zur Not Geschäfte; darauf bin ich schon weniger scharf, du weißt es. Na ja, und die Kneipen.
Ich bin auf einer Insel, aber hier, wo ich wohne, bemerkt man davon durchaus nichts. Es muss doch jede Menge Strand geben. Aber auch davon hab ich noch nichts gesehen, ich bin ja nachts angekommen. Ich muss vielleicht erst mal rausbekommen, was die nächste größere Stadt ist und wie man dorthin kommt. Dort finde ich bestimmt Prospekte oder Führer oder sonst was, damit ich mich erst einmal orientieren kann. Du weißt, ich wollte absichtlich mal irgendwo hinfahren, wo mir die üblichen Informationen fehlten. Nicht immer und immer wieder Venedig (so schön es dort ist). Ich hab mir mit Überraschungen gerechnet, aber wenn man mit ihnen rechnet, sind es natürlich keine mehr. Im Übrigen sind sie hier bisher ausgeblieben. Nein, das stimmt ja gar nicht. Ach ich weiß nicht. Noch gibt es keinen Grund, meine Reise hierher zu bereuen, aber auch noch keinen, darüber begeistert zu sein. Ich glaub, ich muss einfach losziehen, ich mag es ja ohnehin nicht, planmäßig sightseeing-highlights abzuhaken. Wenn man meine Wege nachzeichnete, das wär’ ein seltsames Zickzackmuster, so zufällig laufe ich umher.
Fast immer bleibt man ja auf einer Reise auf schmerzliche Weise „draußen“. Reinkommt man nur in offizielle Räume, Museen, Kirchen, Theater. Die Buchhandlungen, die Cafés. Der Alltag der Leute bleibt einem da natürlich verschlossen. Und hier, da ich die Sprache nicht verstehe, hab ich sowieso keine Chance, mal in eine Wohnung mitgenommen zu werden, an einen Arbeitsplatz, in eine Hinterbühne.

Ich glaub, ich bin heut recht maulig. Bestimmt weiß ich am Abend mehr. Ich werd’ mich jetzt auf den Weg machen, ich wollte nur noch rasch ein paar Zeilen an dich schreiben und meiner Minjonn den Brief übergeben. Sie bringt meine Post immer weg, ich weiß nicht, wohin. Briefkästen hab ich hier noch keinen gesehen.
J.

Dienstag, 22. Februar 2011

7.
Liebe H.,
ich hatte dir gestern erzählt von dem tröstlichen, rettenden Abendessen, der Suppe aus Pilzen, dem dick geschnittenen Ranft Bauernbrot. Noch etwas anderes trug dazu bei, meine Laune nachdrücklich zu heben. Nein, da tu ich mir unrecht, es war nicht bloß Laune, die mich runtergedrückt hatte. Ich hatte seit Tagen mit keinem Menschen ein Wort gewechselt. Nun, gestern Abend saß ich zum ersten mal nicht allein in dem Gastraum. Oder soll man ihn Kneipe nennen? Da war noch ein anderer Mensch, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Außer meiner kleinen Minjonn, einer mürrischen Wirtin, die sicher älter wirkte als sie war, und einem eher hörbaren als sichtbaren, na ja, eine Art Hausknecht, hatte ich ohnehin hier seit meiner Ankunft noch niemanden zu Gesicht bekommen.
Als ich gestern am Abend aus dem Wald zurückkam und in die Gaststube trat, da saß da schon einer. Ein älterer Mann. Ganz in schwarz, um den Hals aber einen kleinen roten seidenen Schal. Er saß in der Ecke, schien auf das Essen zu warten. Auf der Nase kleine runde Lesebrille, vor sich ein Buch, in der Hand einen Bleistift. Er trug einen Bart, der heller war als sein wuschliges Haupthaar; das übrigens stand widerspenstig nach allen Seiten empor, fast wie gerupft. Er blickte hoch, lächelte mich an, klappte das Buch zu, winkte freundlich und fragte noch aus der Entfernung: „Wollen wir zusammen essen?“ „Ja gerne“, gab ich zur Antwort und setzte mich an seinen Tisch. Da fiel mir erst auf: er hatte mich auf deutsch angesprochen. Der erste Mensch hier, mit dem ich mit verständigen konnte. Fast aufgeregt sagte ich: „Sie sprechen ja deutsch?!“ Er lächelte nur und sagte: „Heut gibt es Pilzsuppe; so gut wie sie hier schmeckt, schmeckt sie sonst nirgends. Das wollen wir uns doch nicht entgehen lassen, was meinen Sie?“

Es wurde ein herrlicher Abend. Er erzählte viel vom Essen der Gegend, vom Wein, vom Wetter, aber wenig von sich, nein, eigentlich gar nichts, das fällt mir jetzt erst auf, und ich mochte ihn auch nicht ausfragen. Das Buch, das er gelesen hatte, als ich reinkam, hatte er umgedreht, ich konnte den Titel nicht lesen. Ich hoffte, er würde mal zur Toilette gehen, aber seine Blase hielt mehr aus als meine. Als ich zurückkam, war er verschwunden. Er hatte zuvor für uns beide bezahlt; an meinem Platz lag ein Zettelchen: „Wir sehen uns doch wieder?“. Da war ich dann doch richtig enttäuscht. Aber ich habe ein gutes Gefühl, er wird sich wieder melden. Minjonn räumte den Tisch ab, schnatterte wie üblich; da sie wiederholt auf den nun leeren Platz deutete, sprach sie wohl von diesem Mann. Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Wie üblich verstand ich kein Wort.
Eigentlich wollte ich dir noch von einer weiteren Überraschung erzählen, aber der Spaziergang, das Essen, der Wein dazu, das angeregte Geplausche,- nimm’s mir nicht übel, aber jetzt muss ich ins Bett. Gute Nacht und bis morgen.
Jacob

Montag, 21. Februar 2011

6.

Eigentlich kann ich es mir – jetzt, im Nachhinein - nicht mehr erklären. Ich fühlte mich doch gut, wie noch mal davon gekommen, als ich aus dem Unterwassertunnel hinauskletterte in die warme leuchtende Sonne. Ich hatte dir im letzten Brief von diesem Gang in die, nein nur: durch die Unterwelt erzählt.
Als ich den Weg in den luftigen Schlosspark fortsetzte war da alles so heiter gepflegt, durchaus nicht aufdringlich oder herrschsüchtig über die Natur, wie man es in den Barockgärten erlebt. Links am Ende des Kieswegs mit seinem Blumen- und Pflanzenornamenten ein Schloss. Viel Weiß, viel Gold. Rechts von mir kleine, weiße Marmorfiguren, oder waren sie nur aus Stein? Sie standen auf einer ebenfalls steinernen Brüstung und ließen einen kleinen Durchgang frei. Dort konnte man über niedrige Stufen zum See hinuntersteigen. Enten, ein Schwanenpaar.
Ich ging aber geradeaus weiter in den hinter dem Park beginnenden echten Wald. Mir kam er jedenfalls von Schritt zu Schritt so vor. Weil er immer dichter wurde, auch dunkler. Weich federten meine Schritte auf dem dicken Laubteppich, es roch wunderbar „waldisch“ und als ich auf eine Lichtung mit großen, umgefallenen Bäumen kam, setzte ich mich auf einen umgefallenen Baum. Kein Mensch weit und breit, auch aus der Ferne drang kein menschliches Geräusch. Nur die Blätter rauschten, leise; es war fast windstill. Weit entfernt hörte ich Vögel. Ich weiß nicht, wie, - der Modergeruch vielleicht (eigentlich angenehm, irgendwie pilzig), die Stille, unten am Boden der dicke vermoderte Blätterteppich, oben schon wieder die ersten grünen Triebe; dieser ewige Kreislauf, vielleicht war’s das: mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass ich sterblich bin. Entschuldige, jetzt, da ich wieder im Warmen zuhause bin, das Glas Rotwein leuchtet und duftet neben dem Tagebuch, jetzt kommt mir das eher melodramatisch vor. Aber draußen im Wald, da war es nicht so sehr das Gefühl meines unvermeidlichen Tods, was mich herabdrückte, nein, mir wurde angesichts dieses Kreislaufs der Natur bewusst, dass ich ja fast unausgesetzt denke: Lohnt sich noch, daß ich das oder das beginne? Wenn’s mir den Tod nicht vorher aus den Händen schlägt, dann zertritt er es doch hinterher. Andrerseits: Warten auf den Tod, ist das nicht wie Zitronensäure in Milch gießen; natürlich gerinnt sie davon, natürlich wird sie sauer. Warten bohrt ein Loch in die Seele, lässt Kraft wegsickern. Es wird innerlich ungemütlich, wie wenn eine Tür offen bliebe. Der Raum verliert sein Schützendes. So schadet etwas, das noch nicht da ist, als wär’ es schon da. Ich bin ein Schiffsbrüchiger, der in sein Rettungsboot selber ein Leck pult. Das wurde mir mit einem Mal klar und zugleich wusste ich: ich kann nicht ablassen, voll Angst und Wut auf den Tod zu warten. Was für ein irrer Zirkel.

Weißt du, wie ich mich aus dieser Düsterkeit am eigenen Schopf herausgezogen habe? Ich bekam Hunger. Vermutlich der Pilzgeruch. Er erinnerte mich, dass sie in der Herberge eine unvergleichliche Pilzsuppe zubereiten; am Ankunftstag hatte man mich damit entzückt. Und je mehr ich an diese Pilzsuppe dachte, um so unabweisbarer erwachte mein Appetit und der lässt sich zum Glück nicht von der albernen Frage klein kriegen: Lohnt es sich noch??
Um es ohne Umschweife zu verkünden: Die Suppe war umwerfend; dazu das schwere Bauerbrot mit der himmlischen Kruste.. Mir wurde so warm und wohlig im Bauch und von da kroch dieses Glücksgefühl: ich lebe noch, ich genieße, rasch hoch zum Herzen und schaffte es sogar noch bis zum meinem armen Hirnchen. Uff, was für ein Tag.

Bei dir geht es, hoffe ich, weniger hochdramatisch zu. Mein Glas ist leer, ob ich mir noch eines gönne? Aber ja doch, man wird nicht alle Tage so überzeugend gerettet.
Lass es dir gut gehen und vergiss nicht, zu schreiben,
J.
5.
Ich habe mich wieder beruhigt; einigermaßen. Meine kleine Frühstückmagierin hat sich heute morgen nichts anmerken lassen, ich auch nicht. Die Geschichte mit deinem Brief lassen wir erst mal auf sich beruhen. Sie heißt übrigens, wenn ich recht verstanden habe Mignon, nach dem örtlichen Dialekt natürlich nicht französisch ausgesprochen; ehe wie Minjonn. Ich habe mich beruhigt, das ist ja auch dein Rezept: mit einem ersten größeren Spaziergang. Das Haus, in dem ich Unterkunft fand, liegt ja an einem Fluss. Dahinter ein Park, durch die winterkahlen Bäume sehe ich steinere Figuren, also wohl ein Schlosspark. Nun führen, nicht weit vom Haus entfernt, je links und rechts, schmale Brücken über das Wasser. Ziemlich genau vor dem Haus aber, am Uferweg, darauf hat mich meine Minjonn hingewiesen, führen Steintreppen hinab zum Fluss und da öffnet sich ein schmaler Schacht. Man muss auf einer Eisenleiter, auf Sprossen, die sich sehr kalt anfühlen, ins Dunkle hinabklettern. Ich wollte erst nicht, war misstrauisch, nein, das ganze war mir doch zu unheimlich. Minjonn aber zwitscherte auf mich ein, deutete immer wieder lachend zum anderen Ufer und versuchte mich mit sanftem Druck auf die Schulter zum Hinuntersteigen zu ermutigen. Sie amüsierte sich offenkundig über meine Ängstlichkeit; das war mir dann doch ein wenig peinlich. Und ich stieg hinab. Frag nicht, wie mulmig mir zu Mute war. Vielleicht sollte man sich in meinem Alter wirklich nicht mehr vor einem jungen Mädchen genieren.
Es ging ziemlich tief hinab, wurde immer dunkler, das heißt: das Lichtloch über mir wurde immer kleiner und dann waren die Sprossen zu Ende. Zaghaft tastete ich mit einem Fuß nach unten: da war ein Fußboden, ein kleiner Sprung genügte, ihn zu erreichen. Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ein Gang, nicht sonderlich breit, aber lang; das Ende nicht absehbar, führte offenbar unter dem Fluss hindurch. Es war seltsam still hier unten und dann doch nicht. Der Fluss, von oben, vom Balkon aus zum Beispiel, war ja lautlos; hier unten aber hörte man ihn,- ja was? Nicht eigentlich rauschen, wie man das von Bächen kennt. Ein Geräusch, das, wie du weißt, mir sehr lieb ist. Es war ein Fauchen, wie man es von Gasflammen kennt, auch mein Computer macht so ein ähnliches Geräusch. Hier unter aber klang das Fauchen größer. Größer, nicht lauter. Es klang etwas von Zeitlosigkeit mit, jedenfalls von Dauer, jedenfalls nichts von Anfang und Ende.
Je mehr sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, um so durchscheinender kamen die Wände dieses Tunnels mir vor. Als wären sie nicht aus Beton oder sonst einer Mauer, als wäre sie aus mattem Glas? Bergkristall kam mir in den Sinn, nein irgend ein Stein, der noch Natur belassen ist, ohne den künstlichen Schliff, der ihn kantig macht, um ihm tausende von Reflexe zu entlocken. Die Wand fühlte sich kühl an und zugleich vibrierend, als könnte man das vorbeiströmende Wasser des Flusses spüren. Wenn ich weiterging, hörte man zwar das Echo meiner Schritte, aber sehr gedämpft, wolkig, nicht randscharf. Ein zuckendes Echo, wie Fledermausfliegen.
Als ich ungefähr in der Mitte des Flusses sein musste, kam die Besinnung zurück. Hier ist es nun am tiefsten, dachte ich, welch gewaltiger Druck wohl auf diesem Tunnel hier ruht,- und wenn er bricht? Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen anfing. Jetzt bloß keine Panik. Schweißausbruch, natürlich, weil es hier unten doch recht stickig war. So suchte ich mich zu beruhigen. Wie auch immer, raus, nur raus, dachte ich und zugleich: nicht rennen, sonst richtet die Resonanz meiner Schritte am Ende noch größeren Schaden an. Jetzt im nach hinein amüsiere ich mich über dieses Durcheinander und Übereinander von rationalen und panischen Impulsen.
Ich erreichte das Ende des Tunnels wohlbehalten, es wurde wieder heller und heller, und dann, allerdings rascher als beim zaghaften Hinabklettern, kraxelte ich die eisernen Sprossen wieder hinauf. Sonne, Luft,- und tatsächlich: ich war auf der anderen Seite des Flusses gelandet. Drüben stand immer noch Minjonn, die nun freudig winkte; sie hatte sich Sorgen um den Angsthasen gemacht?
Vom schönen und nun wirklich beruhigenden Spaziergang im Schloßpark bericht ich dir morgen. Oder heut spät Abend, bevor ich ins Bett geh.
J.
P.S.: Gibt es da, wo du bist, anständigen Wein?

Sonntag, 20. Februar 2011

4.
Du wirst es nicht glauben, liebe H.: mit so gemischten Gefühlen habe ich noch nie einen Brief von dir erhalten, nein gelesen, nein,- gehört. Du siehst, die Verwirrung hat sich noch nicht gelegt, das, wovon ich dir berichten muss, ist ja auch eben erst geschehen.
Was du noch nicht weißt: zu den wenigen Menschen, die ich hier schon kennengelernt habe, mehr oder weniger kennengelernt, gehört ein junges Mädchen, das mir morgens das Frühstück aufs Zimmer bringt. Ein liebenswürdiges Geschöpf, recht jung, seltsam strahlend und schön und doch zugleich scheu. Sie stellt mir Kaffee, Brot, frisches Wasser und einiges Herzhafte auf den Tisch, dabei macht sie zuvor und danach einen kleinen Knicks, der mir rührend filmhaft vorkommt. Hat sie alles aufgedeckt, schaut sie mich einen Augenblick wie abfragend an und trillert dann mädchenhaft zutraulich ein paar freundliche Sätze. Natürlich verstehe ich kein Wort. Fremder noch als die hier übliche Hochsprache ist der Dialekt, den auch dieses Mädchen spricht. Dann nickt sie, als wolle sie sich selber Recht geben und huscht wieder hinaus.
Heute nun, nachdem sie wie üblich das Frühstück auf dem Tisch angerichtet hatte, blickte sie mich einen Augenblick schelmisch an. Statt aber ihr Zwitschersprüchlein anzustimmen, griff sie in ihre Schürze und holte deinen Brief heraus. Ich erkannte ihn sogleich am farbigen Umschlag, deiner schön gedrechselten Handschrift. Erfreut griff ich nach ihm, da wich sie ein wenig zurück, drückte den Brief leicht an ihre Brust. Dann schloss sie die Augen wie ein Sänger, ein Schauspieler es tun mag, ehe er sein Solo anstimmt. Und dann las sie, nein natürlich nicht, dann rezitierte sie deinen Brief. Offenbar auswendig. Den Text verwunderlich verbeult von ihrer Aussprache. Sie sprach deinen Brieftext offenbar ohne Verständnis, wie man ein lateinisches Gebet spricht, ohne Latein zu können. Im Singsang ihres Dialekts. Ich starrte sie an, wusste nicht was ich machen, was ich denken sollte. Als sie mit dem Brief zu Ende war, öffnete sie wieder die Augen, das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück, der übliche Knicks. Nein, zuerst reichte sie mir verschmitzt lächelnd den Brief. Als die Tür ins Schloss fiel, bemerkte ich erst, dass meine Empörung ausgeblieben war. Was für ein alberner Scherz dachte ich; mit welchem Recht öffnet sie meinen Brief, lernt ihn auswendig ohne ein Wort davon zu verstehen - -
Ganz betäubt vom durcheinander meiner Gefühle ging ich zum Fenster. Der Brief war verschlossen, er war nicht erbrochen; ich sah es an deinen Initialien, die du immer hinten auf die Klebestelle schreibst. Der ganze alberne Spionkram schoss mir durch den Kopf: über Dampf geöffnet, durchleuchtet, geröntgt, den Umschlag ausgetauscht usw. du wirst es nicht glauben, ich öffnete ihn nicht, sondern setzte mich verstört wieder an den Frühstückstisch zurück. Da lag er dann neben der Tasse und starrte mich an. Wie sollte ich die junge Frau zur Rechenschaft ziehen, da ich mich durchaus nicht mit ihr verständigen konnte? Als ich den Brief schließlich öffnete, überfiel mich eine neue Welle der Verwirrung: tatsächlich war der Wortlaut genau so, wie das Mädchen ihn deklamiert hatte. Ich hatte noch im Ohr, wie sehr sie mit dem Wort „Zauselchen“ kämpfte. Ich weiß wirklich nicht, wie ich dieses Erlebnis verarbeiten soll.

P.S:
Mein Gott, nun hab ich dir über all den hohen Wogen, die dieser Morgen in meiner unvorbereiteten Seele geschlagen hat, noch nicht einmal dafür gedankt, dass du mir nun doch – endlich – ein Lebenszeichen hast zukommen lassen. Was du schreibst, klingt munter und vielversprechend. Wenn wir mal den ominösen „Aussteigertyp“ außer acht lassen, mit dem du deine Wohnung teilst. (Warum eigentlich?). Das riecht nach Konflikt? Wenigstens ist es mal kein „älterer Herr“, der in deinem Leben als Liebhaber UND Arbeitgeber herumspukt. Nein, das war zu kess, das streichen wir rasch; du wirst das schon regeln. Ich hoffentlich auch. Vielleicht sollte ich als erstes ein paar Wörter der hiesigen Sprache erlernen. Mehr, wenn ich mich von dem Schrecken erholt hab. Genieß deine Tage und schreib mir bald mehr.
J.

Samstag, 19. Februar 2011

3.
Liebe H.,
ich habe noch keine Nachricht von dir; ob deine Reise unbehindert verläuft, wo du gerade bist, wie es dir ergeht. Aber vielleicht würdest du, wenn ich’s hören könnte, dasselbe klagen. Also Geduld.
Der Tag lädt dazu ein: er hat grau begonnen und der Himmel hat sich im Laufe des Vormittags zwar nach oben entfernt, das lustlos ungenaue Licht aber hat sich nicht verändert. Ich habe schlecht geschlafen. Spät, vielleicht zu spät in’s Bett, hat mich schon eine Stunde später ein Albtraum ins Wache zurückgestoßen. Eine jener unerklärlichen Bedrohungen, aus denen ich in Panik und mit Herzrasen aufschrecke. Diesmal war es ein übergroßer Mann, winterlich mit Schal und Mütze eingehüllt, der auf mich zukam. Vor seinem Unterleib hielt er einen roten Plastikwasserhahn. Schon während er näherkam hatte ich im Traum das Gefühl, ich sollte nicht auf diesen kleinen Wasserhahn schauen. Er ging an mir vorbei; schon wähnte ich mich sicher, da drehte er sich mit einem Ruck nach mir um und trat heran. Danach das übliche Erschrecken usw.
Das Herzrasen verzog sich zum Glück rasch, ich schlief auch bald wieder ein, aber nur für kurze Zeit – lassen wir das. Der Tag ist noch jung und vielleicht wird er bald farbiger, heller wenigstens.
Im Hinterhof, der sich zu einem kleinen Sitzgarten öffnet, Bank, Brunnen, Blumenbeete, der Hinterhof ist mit einem dickschuppigen, dunkelgrünen Efeuteppich an den Häuserwänden bewachsen. Aber draußen, am Ufer, da meinte ich gestern Abend, im Halbdunkel, an einem der wintertrockenen Äste des dichten Gebüsches einen kleinen grünen Spross zu sehen. Kleines, mutiges Frühlingsanzeichen. Darauf setze ich; grün ist ansteckend.
Es ist seltsam ruhig, nein: still. Als hätte eine Ebbe alle Geräusche mit sich fortgesogen. Der Fluss ist ohnehin lautlos; leider. Mich wundert, dass auch kein Vogel zu hören ist. Auch das Haus klingt nicht, keine Schritte, keine Stimme. Es könnte einem unheimlich werden. Vielleicht sollte ich hinausgehen, aber ich tu’s nicht. Ich werde etwas machen, was du an mir durchaus nicht kennst, was, täte ich’s zuhause dir am Ende Sorgen machen würde: ich schlüpfe zurück ins Bett. Es ist so weich und noch ein klein wenig warm von mir und ich lasse mich treiben wie in einem Boot auf einem Gewässer voll Stille.
Vergiss nicht zu schreiben!
J.
2.
Eigentlich wollte ich heute Abend beginnen, dir meine Reise, vor allem die letzten Tage der Ankunft auf der Insel zu schildern. Aber es hält mich nicht im Zimmer; draussen weht ein eigenartiger Wind. Wind, liebe H., wirst du murren, gibt’s auch bei uns reichlich. Nein, diesen nicht. Kann sein, dass ich mir etwas vormache, dass das verwirrend Neue hier mich übertreiben lässt. Der Wind duftet. Dieser Wind heute Abend. Und er drängt sich an mich heran, dass ich meine, er fasse mich an. Ich weiß nicht, wie ich mich verständlich machen kann. Sonst ist das Wesen des Winds, dass er ortlos ist. Von irgendwo kommt er her und nach irgendwo verschwindet er. Aufenthalt, Gegenwart gibt es nicht für ihn. Dieser Wind hier kommt und geht nicht in Stößen, er drängt sich heran an meinen Leib, wie eine Frau? Weich, körperreich, verbindlich. Wie interessiert an mich. Und wenn er sich auch wandelt, bewegt, er lässt nicht mehr ab von mir. Dazu sein Duft; irgendwie nach vVanille, nach Flusswasser, salbeibitter. Am liebsten hätte ich mich entkleidet.
Jetzt – ich bin wieder im Zimmer, sitze am Tisch und schreibe – jetzt ist mir die Erinnerung an vorhin ein wenig peinlich. Nein, nicht peinlich. Aber ich fühle mich nicht gestärkt durch das Erlebnis, eher verlassen, vernachlässigt,- vom Wind? Ich sollte schlafen gehen. Die Reisestrapazen sind doch noch nicht verklungen.
Ich grüsse dich herzlich.
J.
Reisebriefe an H.

1.
Du wirst unzufrieden sein mit mir, liebste H.; sei’s nicht, ich bitte dich. Der letzte Abschnitt der Reise, die Ankunft zumal war zu mühsam, auch zu befremdend, als dass ich Zeit gefunden hätte, nein: es hat mir an Ruhe, an Beschaulichkeit gefehlt, um dir wie an den Tagen zuvor von meiner Reise zu berichten. also noch mal die Bitte um Geduld.
Ich bin auf der Insel wohlbehalten gelandet, hab dort auch schon Unterkunft gefunden, versuche mich einzurichten, mit den nötigen zu versorgen und nur erst soviel: die Aussicht aus meinem Fenster ist vielversprechend, wohltuend, erweiternd. Auch sind die Räume, die ich nun bewohnen werden großzügig genug; ich werde mich weder eingesperrt fühlen noch verloren. Noch fehlt freilich einiges, das diese Räume zu einem Spiegel meiner selbst machte, aber ich bin ja eben erst angekommen.
Sei bitte nicht verdrossen, dass ich es für heute bei diesen vagen Andeutungen belassen muss. Bald mehr und umfangreicheres.
Ich hoffe, auch du hast zu deinem Behagen zurückgefunden, denn wenn ich deine Briefe richtig las, hat auch deine Reise dich eher irritiert als bereichert.
Von mir jedenfalls bald mehr. Ich grüsse dich herzlich.
Jakob

Freitag, 11. Februar 2011

Mein lieber Tintenfisch

Ich habe mir einen Tintenfisch gezähmt; ich fürchte, er denkt dasselbe von mir. Obwohl es mir klar war: ein Tintenfisch, das ist kein Hundchen. Das Ausmaß der Schwierigkeiten hat mich trotzdem kalt erwischt. Und um ehrlich zu sein: noch ist nicht endgültig entschieden, wer der Herr ist und wer der Diener. Nüchtern, wie ich nun mal bin, erkannte ich rasch den Kern des Problems: ich brauche ihn, er mich aber nicht. So gut wie gar nicht, naja - jedenfalls kaum. Falls Sie dieses mein Schreiben überhaupt je erreicht: ich bin verschollen. Schifffahrt und Schiffbruch und einsame Insel. Und alles verloren, vor allem mein Schreibzeug, vor allem die Tinte. Manch ein Neunmalkluger, ich hör ihn schon feixen, wird mir gleich mit dem Ratschlag daherkommen: schreib doch mit Blut. Ich müsste nicht antworten, tu’s aber trotzdem: ringsum kreisen Haifische, hungriger als ich. Und ich fische mir Kleinzeug zur Nahrung mit den eigenen, unbewaffneten Händen. Capito?

Was ich besitze: mein Schiffsticket (Rückseite leer), ein verschliessbares Fläschchen (war Mundwasser drin, gegen liebesverhindernden Mundgeruch). Es gibt reichlich Kaktusstauden am Ufer: an einer nadligen Schreibfeder fehlt es mir nicht. Nur eben an Tinte. Ich will Sie jetzt nicht mit der Topografie meiner Insel belasten, zumal auch der Schreibplatz auf meinem „Briefpapier“ entsprechend begrenzt ist. Wenn Sie mich retten, werden Sie selber ja sehen, wie hübsch es im Grunde hier wäre.
Auf der Nachmittagssüdseite gibt es ein Buchtchen; wünschenswert weiss glänzt der Sandstrand, die Brandung ist mässig, das blaue Wasser ist rätsellos durchsichtig hinab bis zum Grund. So war es nicht schwer für mich, ihn zu entdecken. Behäbig und neuerungsscheu, er ist wohl schon älter, verwirft er den Ortswechsel, entfernt er sich wenig von seinem Stammplatz. Sei’s, dass er mich nicht ernst nimmt, oder ist er schon kurzsichtig? Er flieht nicht, wenn ich zu ihm hinwate.
Meine ersten Versuche, ihn gewogen zu stimmen, waren unsinnig; wer weiß schon auf Anhieb, was ein Tintenfisch frisst? Die mit blutigen Fingerkuppen von mir ausgebuddelten Würmer ließ er verächtlich an sich vorbeizappeln, meerwärts. Ich fasse mich kurz; auf dem Wege von Füttern kamen wir uns einfach nicht näher, er hat, was er braucht und mein Zubrot, definitly, das braucht er nicht. Vielleicht wollte er spielen? Ein bisschen einsam? Schwer zu sagen, was ein betagter Tintenfisch fühlt. Ohne Zweifel hat er Scharfsinn, vielleicht gar Sinn für Humor? Man sollte sich mehr dem Tintenfisch zuwenden als hysterischen Delphinen mit ihrem Stimmbruchgefiepe. Auch hier kürze ich ab: wir wurden ein Paar. Eingespielt aufeinander im Begehren und Necken, im Belohnen und machtseligem Hängenlassen, ja in purer Verweigerung. Er erkennt mich an meinen watenden Schritten (siehe die Andeutung oben zur Tintenfischintelligenz), kommt mir zutraulich entgegen als wüsste er selber, dass mich jeder Schritt weiter hinaus in die Reichweite der Haifische brächte. Unerklärlich bald hatte er erkannt, dass ich es auf seine Tinte (und auf sonst gar nichts) abgesehen hatte. Sorgsam bedacht ihn nicht zu verscheuchen nähere ich meine Hand mit dem offenen Fläschchen. Er umkreist sie, rammt sie, nein, sein Antupfen ist eher zärtlich. Schon schöpfe ich Hoffnung, da schnellt er herum, die Biester sind unglaublich wendig, und pumpt einen riesigen Tintenschwall in das Meer,- in die andere Richtung. Auch hier will ich abkürzen; ich hab noch kein Tröpfchen im Glas. Zuweilen, dieses Detail ist mir nun fast ein wenig zu peinlich, hin und wieder also, schmiegt er sich nasskalt und hautweich an meine Hand, die das Fläschchen so flehentlich hinhält. Und ergießt sich mit Inbrunst in meine Hand. Sie wird, auch nach meiner Rettung, bestimmt noch jahrelang den Braunton nicht loswerden.
Wie lang wird er sich noch verweigern? Will er meine Anhänglichkeit prüfen, gar steigern? Ich mag ihn, aber zuweilen, wenn ich, wieder erfolglos, am Strand sitze, die tintengegerbte Hand auf mein Knie lege, elegisch hinausblicke ins endlose Blau, ja, dann hasse ich ihn mit erschreckendem Feuer.

Heute hat er’s mir endlich geschenkt: im Fläschchen ist Tinte, ich schreibe damit: ich bitte um Rettung, womöglich schon bald.

Montag, 7. Februar 2011

uhrenzucken

Ist einer von Natur aus gefügig, kann ihn das Ticken der Uhr leicht in die Knie zwingen. Lange hat er’s geschafft, sie zu überhören, das verdankt er andren Geräuschen, die er undankbarerweise verflucht. Das Fauchen des Autoverkehrs vor dem Fenster zum Beispiel. Übrigens als Geräusch durchaus rein, wohltuend unsichtbar. Ein beharrliches Kommen und Gehen, von dahier nach dorthin. Dergleichen betont freilich das eigene Festgenageltsein; wer mag sich daran erinnern lassen?
Auch das Zischen der Heizung kann wie ein herrschsüchtiger Pascha alles andere zum Schweigen verdammen. Doch nicht lange, denn für das kleine Zimmerchen wird die voll aufgedrehte Heizung rasch zu heiß. Wieder zugedreht, erstirbt das blasende Strömen der Heizung, schickt noch einige Knacktöne nach, dann ist es vorbei.
Schonungslos rückt nun die Stille des entleerten Hauses heran. Keine Stimmen im Korridor, kein Telefonfiepen, kein Mädchengelächter. Kein Schritt, keine Tür. Die dumpfe Fermate des Garnichts. Und nun, als wär’ es das Vorspiel für die Arie einer Diva, erhebt sich, nein schmiegt sich, nein schält sich ein boshaftes Solo aus der matten Stille heraus. Wie bei leise sprechenden Menschen unser Ohr alles vergrößert, Banales aufbauscht, Dünnes verhärtet, so scheint auch hier das gedämpfte Ticken im Lauschen zu wachsen. Es quillt auf. Trippelt mit rhythmischen Schritten vor an die Rampe. Aber da tickt doch nur ein ganz kleiner Wecker?! Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine (Ach, nicht nur am Fuße der Moldau).
NooochNicht! Oder: Zuuuugleich. Immer ist der erste Ton ein Zögern, der zweite widerruft dies mit gesteigerter Schärfe, kompromissloser Definitivität. Der erste Ton nur als Vorsilbe, „ge-“, der zweite als das finite Verb: „tan!“ ge-tan, ge-sehn, Ge-bet, Ge-fecht, geh-weg, geh-weg, es ist - zu spät.... Ich spüre im Ticken den Sensenschlag des Tods von Altötting, der den gleichen Schritt und Tritt der Soldaten imitiert. Pardon wird nicht gegeben.
Noch klingt alles katzenpfötig verhalten. Es ist kein randscharfer Trommelschlag, überhaupt kein Schlagen, eher leicht ausgefranst, wunderlich vielstimmig, vor allem im Auftakt. Dünn wie das Aufstampfen winziger Strohhalme. Der Aufmarsch von stählernen Schreibfedern.
Wie lange kann es sich mein Herz leisten, in Synkope zu diesem Kommando zu schlagen? Das ist ein Duell: er oder ich! Noch ist mein Herzschlag langsamer, hinkt hinterher, bald wird er hektisch, rennt, stolpert voran, um dem Taktgebermaßstab zu genügen, und dann schießt er weit übers Ziel hinaus. Ich hab mich verlaufen. Atemlos, herzklopfenbang.