Samstag, 13. Oktober 2012

Reisebrief 36

36.
Du weißt, ich trinke nachmittags keinen Wein; du hast dich oft genug über mich mokiert, dass ich erst nach acht Uhr das erste Glas fülle. Was ich dir hier beschreibe, ist mir so gegen vier Uhr widerfahren.  Ich las Zeitung und hatte nicht gemerkt, dass am Tisch nicht weit von meinem eine junge Frau im Cafè Platz genommen hatte.  Wohl schon vor einer Zeit, denn als ich sie bemerke, hat sie ihren Kaffee schon halb leer getrunken. Sie sitzt da, über ihr Notizbuch gebeugt, dass die herabquellen Haare ihr Gesicht verbergen. Sie schreibt. Mit einem Füllfederhalter. Als sie sich aufrichtet, um einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse zu nehmen, wischt mein Blick durch sie hindurch. Als würde ihr Körper einen Augenblick wie im Nebel fernrücken, dünn werden, nein, leer werden. Wie ein Baum im Nebel kraftlos wird, entschwindet, sich mühsam wieder sammelt, wenn man ihm näherkommt.
Ich blicke mich um, niemand zeigt Verwunderung oder vermehrte Aufmerksamkeit, niemand blickt zu ihr hin.
Ich suche nach Erklärungen: Lichtschwankungen? Schatten? Meine Müdigkeit? Draußen ist gleichmäßiges Regengrau, hier drinnen das weiche Goldgelb der zahlreichen gedimmten Lampen. Und ich sehe ihren Tisch, ihre Tasse, ja sogar ihr Tagebuch klar und scharf und deutlich. Fast bilde ich mir ein, das Kratzen ihres Füllers zu hören. Und jetzt beginnt sie wieder zu verblassen. Wie in einer langsamen Überblendung verdämmert ihr Körper, taucht die Stuhllehne hinter ihr auf und die Wand dahinter, die ihr Leib eben noch verdeckt hatte. Während ich noch hinstarre, zerrinnt der Nebel und ihr Körper kehrt zurück. Ich finde, sie ist dick.

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