Samstag, 13. Oktober 2012

Reisebriefe 37

37.
Sie war vor mir da. Ich weiss nicht, warum ich mich so nah neben sie setze. Um die Zeit sind noch viele Tische frei; die Leute sind einkaufen oder schlendern plauschend auf dem Marktplatz herum, schauen sich die kleinen Fundstücke der Flohmarktstände an. Hier also, zum Greifen nah, nein, in Wahrheit wie auf einem anderen Planet diese Frau. Ein wenig mollig ist sie, finde ich. Himbeerfarbig der Pulli und der Schal dazu, eine kleine Frau, bestimmt nicht nur im Sitzen. Hinter ihrer dicken Sonnenbrille schaut sie direkt zu mir, dreht an ihrem schwarzen, leicht gekräuselten Haar. Die rechte Hand zwischen ihren Schenkeln vergraben. Ihr Mann liest wortlos die Zeitung oder telefoniert. Hinter beiden ein Kinderwagen, und sie? Schon wieder schwanger?
Durch das Spiegelschwarz ihrer Sonnenbrille wehen  spinnwebenfein zwei Drähte zu mir herüber, haken sich in meinen Augen fest. Ich halte still, um sie nicht zu zerreißen, halte den Blick in ihre Blicknacht hinein. Und dann schickt sie mir an den Drähten entlang Buchstaben herüber. Ich muss  blinzeln, als sie bei mir aufprallen. Sie sind handschriftlich, hastig gekritzelt und wenn mich mein Italienisch nicht trügt, fehlt ein Buchstabe beim zweiten Wort.  Ah, da kommt er nachgereicht. Was schreibt sie? Ich muss schmunzeln, als ich es endlich entziffert habe.
„Ich habe kein Interesse an dir.“
Sehr gut. Jetzt darf ich keinen Fehler begehen.
„Auch ich interessiere mich nicht für den Duft deiner Haare“, schreibe ich zurück. Sie hat ebenfalls einige Schwierigkeit mit meiner deutschen Handschrift, doch als sie den Text verstanden hat, lässt sie rasch ihre Haare los. Ein wenig verblüfft, wie einer, der auf ein Selbstgespräch Antwort erhält.

Wie lange sie zögert, hab ich schon verspielt? Sie steht auf, fummelt am Kinderwagen herum, dabei schläft das Kind doch. Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl. Schaut auf ihren Mann; der liest die Zeitung. Und dann schickt sie mir doch wieder eine Nachricht. Diesmal in Druckbuchstaben.
„Meine Haare duften nur, wenn der Wind sie verweht.“
„In der Windstille könnte ich mir ein Nest hineinbauen?“
„Nein“, schreibt sie, „nein!“ und hebt für einen Augenblick die Brille von den Augen; sie sind so schwarz wie die Brille. Ich will eben antworten, da wischt ihr Mann die Zeitung zusammen, mit großer Gebärde und springt auf. Er tritt zwischen sie und mich, zerreißt unsere Drähte.

Keine Kommentare: