Montag, 11. Januar 2010

Das Ringlein

Im Café habe ich mich an einen Tisch zu einer Frau dazugesetzt; es war sonst nichts mehr frei. Als ich sie um Erlaubnis fragte, hatte sie nur stumm mit der Hand auf den Stuhl gezeigt, ich glaube, sie schrieb in ihr Tagebuch. Ich bestellte und blickte dann verstohlen zu ihr hin. Sie war höchstens vierzig und sehr elegant gekleidet, trug aber keinen Schmuck. Das Büchlein, in das sie schrieb, war ein schäbiges Schulheft, aber sie schrieb mit einem Silber gefassten Bleistift. Auch sah die Schrift aus wie bei jemandem, der viel schreibt. Klein, aber sehr zierlich in sich schwingend, als häkle sie mühelos ein sehr kunstvolles Ornament aufs karierte Papier. Soweit ich sehen konnte, beachtete sie die vorgegebenen Zeilen nicht.
Plötzlich hob sie den Blick zu mir. Warme, dunkle Augen in einem schlanken Gesicht, und als hätten wir ein längeres Gespräch nur unterbrochen, fragte sie: „Und warum hast du mir noch nichts von deiner Reise erzählt? Hast du mich vermisst?“
Ich blickte sie entgeistert an und wusste nicht, was ich antworten sollte. „Sie müssen mich verwechseln“ oder „kennen wir uns?“ - nein, das war doch zu peinlich. Ich kannte ja die Angewohnheit mancher Frauen – und ich hasste sie – am Telefon einfach drauflos zu plappern, ohne ihren Namen zu nennen. Und ich versuchte dann durch geschickte Fragen herauszubringen, wer dran war, statt gleich zu sagen: „Verzeihung, mit wem spreche ich?“
Sie schien mein verwirrtes Zögern nicht zu bemerken, sie hatte sich wieder zu ihrem Tagebuch gebeugt, doch während sie schrieb, sprach sie weiter zu mir: „Nicht einmal eine Postkarte hast du mir geschrieben.“

Ich entschloss mich, auf das Spiel einzugehen und sagte: „Aber du weißt doch, wie lange die italienische Post braucht; ich habe dir diesmal sogar zwei Postkarten geschickt.“
Da schob sie ihren Bleistift in ihr Heft, klappte es zu und legte ihre Hand auf meine und sagte sanft: „Aber du weißt doch, ich bin unersättlich.“ Ihre Hand war wundervoll weich und von einer strömenden Wärme, die mir fast wie ein Stromschlag in den Körper fuhr. Ich legte meine andere, kalte Hand auf ihre, seltsame Gebärde, und versuchte zu scherzen: „Wenn du möchtest, schreibe ich dir auf der Stelle fünf weitere.“ Das wollte ich eigentlich sagen, aber meine Stimme war so verräuspert, dass ich nur Brocken herausbrachte. Währenddessen durchjagte ich mein Gedächtnis, wer sie sein könnte, der Schweiß trat mir auf die Stirne.
Sie griff mit ihrer anderen Hand nach meiner, die so froschkalt auf ihrer lag, führte sie zum Mund und biss mich ganz zart in den Zeigefinger. „Hast du mich nun vermisst oder nicht?“
Ich kannte sie nicht! So, wie sie sich verhielt, konnte sie nicht eine Bekannte aus uralten Zeiten sein. Sie verwechselte mich. Prüfend starrte ich sie an: sie war „normal“, nichts an ihr wirkte exaltiert oder sonderlich. Jetzt konnte ich nicht mehr sagen, „Verzeihung, Sie verwechseln mich mit jemandem.“ Wenn ich nur ihren Namen herausbringen könnte. Ich schielte auf ihr Tagebuch; mit schwungvoller Schrift waren zwei Initialen in das kleine Schildchen geschrieben. M.L.,- Mona Lisa dachte ich und musste gegen ein hysterisches Gelächter ankämpfen, das mir hochzukommen drohte. Also einfach abwarten, mitspielen, irgendwie würde sich das schon auflösen. „O je“, rief sie plötzlich, „das Geschenk! Wir können nicht wieder ohne Geschenk kommen.“ „Geschenk“, echote ich blödsinnig. „Ich habe heute morgen eine wunderschöne Vase gesehen, groß, weißt du. So was braucht sie wirklich noch. Dann muss sie die Blumen nicht immer in den Putzeimer stellen. Du kannst ja meinetwegen noch eine Flasche Wein besorgen. Weiß, nicht wieder rot, ja? Ist zwar nicht besonders einfallsreich –„

Sie erhob sich eilig, raffte Buch, Bleistift und ihren Schal zusammen. Sie beugte sich zu mir herunter und als ich aufstehen wollte, drückte sie mich auf den Stuhl zurück. Sie gab mir einen langen, schmelzenden Kuss auf den Mund. Aus ihrem decolleté strömte ein betörender Duft von Haut und Parfum und ich musste sehr dagegen ankämpfe, meine Hand einen Moment lang auf ihren weichen Busen zu legen, der gegen mich herandrängte. Sie tätschelte mir noch die Wage, dann rauschte sie davon. Nach wenigen Schritten kehrte sie noch einmal um, kam zu mir zurück und fragte: „Hast du die neue Adresse? Dass du ja nicht wieder in die alte Wohnung läufst, du zerstreuter Professor.“ Dann griff sie in die Brusttasche meines Jacketts, holte zielsicher meinen Füller heraus und schrieb auf die Zeitung eine Adresse. Malte noch ein kleines Herzchen dazu und dann war sie endgültig weg. Ich aber saß betäubt, verwirrt, erregt an meinem Tisch und blickte auf die Tür, durch die sie eben verschwunden war.
Ich zahlte, auch ihren Tee, und fragte die Kellnerin, möglichst nebenbei: „Sagen Sie mal, wer war die Dame an meinem Tisch?“ „Soll das witzig sein?“, gab sie übellaunig zurück. Und sie fügte hinzu, während sie die Krümel vom Tisch wischte: „Furchtbar, diese Frau, jetzt hat sie schon wieder ihren Ring liegen lassen. Nimm ihn mit und gib ihn ihr heute Abend.“ Sie gab mir einen kleinen Ring mit einem dunkelgrünen Stein. Ehe ich widersprechen konnte, war sie weg. Warum duzte mich auch die Bedienung, die ich noch nie zuvor gesehen hatte? Verzweifelt steckte ich den Ring ein und ging. Immerhin hatte ich die Adresse für heute Abend, da musste sich alles auflösen.
Da ich die schnippische Kellnerin nichts fragen wollte, ging ich hinaus und überlegte: hatte sie gesagt, wann wir uns treffen würden? Ich konnte mich nicht erinnern.

Eigentlich war ich nur spontan aus dem Zug ausgestiegen, um mir für ein Stündchen die Stadt anzuschauen, durch die ich sonst immer durchfuhr. Als ein Polizist vorbeikam, hielt ich ihn an und fragte ihn nach der Adresse auf dem Fetzen Zeitung. Er wusste es nicht, empfahl mir aber einen der Taxifahrer zu fragen, die vor dem Bahnhof standen. Auch er wusste es nicht und als er einen älteren Kollegen dazu rief, sagte der nach einem Blick auf den Zettel kopfschütteln: „Ne, so eine Straße gibt es in unserer Stadt nicht.“
Den Ring trage ich seither immer in der Hosentasche.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Oh liebe Georg, come adoro leggere quello che scrivi. Forse non ho capito tutto, ma mi sembrava di vederti al Cafe Schell in Savigny (Ist es noch da?)o all'Einstein o al Kranzler, magari dopo esserti procurato "il contrario di un buco in testa andando a sbattere sul palo del semaforo mentre ti guardi i calzetti sbucare fuori dai sandali... Erinnerst du noch den alten Zeiten? deine italienerin Cecilia