Mittwoch, 6. April 2011

29.
Man soll sich nicht umschauen; das ist tödlich. Jedenfalls gibt es große Beispiele dafür: Orpheus, Frau Lot – Fragt sich halt, wie weit man zurückschaut. Wie weit man, indem man den Kopf dreht die Gefahr vor sich nicht rechtzeitig sieht,- oder das Glück? Bei Frau Lot ist es simple Neugier, die sie das Leben kostet, sie zur Salzsäure verwandelt. Warum soll eigentlich niemand das Wüten Gottes gegen die Bösen mit ansehen? Wenn ich mich recht erinnere, werden die sündigen Städte (Babylon? Nein, Babylon war ja schon wegen des Turmbaus und der daraus folgenden Sprachverwirrung zum Teufel gegangen.) Sodom und Gomorra waren die unglücklichen Städte, denen es an der Kragen ging – wegen ihrer Schweinereien, als die Zahl der Gerechten, derentwillen Lot Verschonung erbetteln will nicht ausreicht.
Man hat inzwischen gelernt: nach einem Tsumani schaut man sich nicht um, das kostet lebensrettende Sekunden. Gut, bei äußeren Katastrophen heißt also die Devise: rette sich wer kann. Zur Rückschau ist später, falls man’s überlebt hat noch genug Zeit.
Entschuldige, wenn ich so vor mich hingrüble. Ich spreche natürlich von mir. Und um gar nicht erst Sorge bei dir aufkommen zu lassen: mir ist hier nichts Schlimmes passiert. Kein Erdbeben, keine Überschwemmung, auch kein Überfall und die scheinbare Verhaftung neulich hab ich dir ja ausführlich beschrieben: ein Missverständnis.
Ich fühle mich zusehends irritiert, hab schon an Heimreise gedacht,- eine Flucht, die jetzt zu spät ist. Auch zuhause, nein dort vermehrt, würde mich die Grübelei nicht mehr verlassen. Grins nicht oder tu’s meinetwegen: ich suche nach dem Sinn meines Lebens. Und blicke zurück auf mein Leben, um herauszubringen, ob ich irgendwann – ach, eigentlich hab ich gar keine Lust, das vor dir auszubreiten Langweilt dich vermutlich. Nein entschuldige, nach unseren Spielregeln sollte ich nicht vermuten was du denkst oder fühlst, sondern fragen: langweile ich dich? Geht halt nicht beim Briefeschreiben ---

Wenn man denkt oder merkt: ich hab mich verlaufen, dann die alte Pfadfinderregel: zurückgehen; wo bin ich vom sicheren Weg abgewichen? So simpel funktioniert das bei einer Biografie natürlich nicht. Ich bin ja hierher gefahren, um eine ganz fremde Welt zu erleben. Nicht aus Sensationslust; ich hatte gehofft, durch Konfrontation mit einem Fremden das Eigene wieder genauer zu sehen, das, was durch Gewohnheit selbstverständlich, dh. unsichtbar geworden ist, wieder deutlicher zu sehen. Um mich dann für das Bessere entscheiden zu können.
Ach, vielleicht ist das alles viel zu aufgedonnert; ich bin abgehauen, geflohen. Und der wahre Grund war, dass sich Luisa von mir getrennt hatte. Das hatte ich theoretisch immer vorausgesehen, als es dann doch eintrat, hat es mir den Boden unter den Füssen weggerissen.

Orpheus blickt sich nach seiner Frau um, die er gerade aus dem Tod zurückgeholt hat, nein, sie sind ja noch unterwegs, noch nicht in Sicherheit, noch nicht wieder im Leben oben. Sie verführt ihn,- durch Zweifel. Ich hab nie darüber nachgedacht, warum Orpheus sich nicht umdrehen darf, warum Frau Lot das auch nicht darf. Wer gibt diese dem Gefühl so widerstrebenden Regeln? Und warum?
ICH hätte gern gehabt, dass Luisa sich nach mir umdreht, mich fragt: Liebst du mich denn nicht mehr? Sie hat sich nicht umgedreht.
Luisa ist für mich gestorben und ich werde sie bestimmt nicht mehr zurückholen; und meine Welt – mit ihr – ist so vernichtet wie Sodom durch Feuer und Schwefel, die vom Himmel regnen.
Entschuldige, falls du mich konfus findest oder zu weitschweifig, oder gar sentimental? Ich überlege einfach, ob ich mich in die Zeit vor Luisa zurückbeamen soll – aber das will mir nicht gelingen. Mir ist, also stünde sie wie eine Mauer vor allem „davor“. Als finge mit ihr erst mein wahres Leben an. Alles was „vor“ Luisa war ist blass, alles danach aber dunkel. Ich komme mir vor wie ein Rückenschwimmer, der noch dazu gegen den Strom schwimmt. Alles was ich dann sehe, ist schon wieder vorbei - -

Ich glaube, ich gehe noch ein wenig hinaus; der Regen hat ja endlich aufgehört, noch ist es sehr schwül, dampfend, die Wege aufgeweicht, von den Bäumen tropft es. Aber ich muss hinaus. Morgen reise ich in meine alte Herberge zurück; zur guten Minjonn. Die wird mich wieder aufpäppeln, wieder heiterer plappern. Und dann werde ich mir endlich das berühmte Nationalmuseum anschauen, Bekannte treffen, auf andere Gedanken kommen,- „vorwärts und der Zukunft zugewandt“. Also mach dir keen Kopp wegen mir. Ich glaube fest, dass es ein guter, ein heilender Gedanke war, hierher zu reisen.
Wie es mit dir steht, weiß ich nicht; es kommt keine Post vor dir. Aber vielleicht wartet in der Herberge was auf mich. Ich will hoffen, dass meine Briefe dich wenigstens erreichen. Aber wie soll ich das wissen, wenn du nie antwortest.
Jacob

Keine Kommentare: