Donnerstag, 7. April 2011

30.
Du lieber Gott: hier ist echt der Teufel los. Ich hatte ganz vergessen, dass man an diesem Wochenende das Dingsbumsfest feiert; hab vergessen, wie es heißt und was es bedeutet. Alle Häuser sind geschmückt, sogar meine liebe alte Herberge, alle Zimmer sind belegt, ja überbelegt und ich rätsle, wieso ich mein altes Zimmer beziehen konnte. Noch rätselhafter: die gute Minjonn scheint gewusst zu haben – woher bloß?? – dass ich an diesem Wochenende käme; sie hat mir nicht nur das Zimmer freigehalten, hat es obendrein geschmückt. Blumen überall, die berühmte Obstschale und sogar eine Flasche vom Weißwein hat sie organisiert für mich. Ich hab sie zur Begrüßung ganz gerührt in die Arme genommen und sie war auch echt bewegt und hat es nicht verborgen.
Seltsam, was? Dass man auch in der Fremde so was wie Heimat bildet, wo man zurückkehrt, um sich auszuruhen, sich zu schützen vor den Angriffen des zu Fremden. Wo man Ruhe findet, obwohl ringsum wirklich der Teufel los ist.

In der Hauptstadt, rings um den See, stehen zahllose Buden und überall gibt es kleine Inseln von Zuschauern rings um Schausteller, Spaßmacher, Feuerschlucker, Artisten und vieles mehr. Auf einem Steg im See ist ein Gerüst aufgebaut worden, da drängeln die Kinder hin. Oben, ich kann’s nur aus der Ferne sehen, der Andrang ist so stark, ich komm gar nicht näher ran, also oben auf dem Gerüst steht eine Maschine, die produziert Seifenblasen. Aber riesengroße. Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen: Kinder stellen sich breitbeinig über diese Maschine, dann bläst der Maschinist eine Seifenblase. Die wird immer größer bis das Kind praktisch in ihr steht. Und dann – du traust deinen Augen nicht – hebt diese Blase ab und beginnt über das Feld zu schweben und vier Leute – Assistenten? – rennen hinterher, kämpfen und quetschen sich durch die Menge, mit einem Sprungtuch. Irgendwann macht es dann plobb und die Kinder landen, wenn alles gut ging, in so einem Sprungtuch. Wenn nicht, sie fliegen ja nur weniger Meter über dem Boden, fängt die dichte Menge kreischend und jubelnd das Kind auf. Frag mich nicht, wie das funktioniert.

Es gibt natürlich auch für Erwachsene jene Menge Lustbarkeiten. Ich hab’s aber erst in eine der zahlreichen Buden geschafft. Auch hier ist der Andrang immens. Wie im guten alten Jahrmarkt bittet ein Magier (?) eine Frau aus dem Publikum auf die Bühne. Sie tut’s, wie üblich unter reichlich Hallo und kessen Kommentaren der Andern. Der Magier bittet sie höflich, an einem blumengeschmückten Tischchen Platz zu nehmen. Was sie möchte, fragt er und als sie sich schüchtern für Kaffee entscheidet, holt er aus der Luft eine dampfende Tasse und sogar ein Stück Kuchen dazu. Naja, die alten Schaubudentricks hör ich dich sagen; wart’s ab. Er sagt ihr, sie solle sich nicht fürchten, alles was nun geschehe, werde er hinterher wieder ungeschehen machen usw. Er reicht ihr Briefpapier, einen riesigen Füller, sie soll einen Brief schreiben, sich um nichts mehr kümmern, was rings um sie passiert. Sie ist recht gutwillig, fängt wirklich an, zu schreiben. Da sitzt sie nun, im Zelt ist es ganz still geworden, über ihren Brief gebeugt, dass die herabquellen Haare ihr Gesicht verbergen. Sie schreibt. Als sie sich aufrichtet, um einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse zu nehmen, geht mein Blick durch sie hindurch. Als würde ihr Körper einen Augenblick im Nebel dünn werden, nein, wie ein Baum im Nebel dünn wird, entschwindet, wieder auftaucht, fest wird und wieder entschwindet.
Ich blicke mich um, alle starren nach vorne zur Bühne. Sehen alle dasselbe wie ich?
Ich suche nach Erklärungen: Lichtschwankungen? Schatten? Mein Müdigkeit? Draußen ist gleichmäßiges Regengrau, hier drinnen das weiche Goldgelb der zahlreichen gedimten Lampen. Und ich sehe ihren Tisch, ihre Tasse, ja sogar ihr Tagebuch klar und scharf und deutlich. Und jetzt beginnt sie wieder zu verblassen. Wie in einer langsamen Überblendung verdämmert ihr Körper, taucht die Stuhllehne hinter ihr auf und die Wand dahinter, die ihr Leib eben noch verdeckt hatte. Während ich noch hinstarre, zerrinnt der Nebel und ihr Körper kehrt zurück. Ich finde, sie ist dick.

Mir schwirrt der Kopf, aber es reicht noch für liebe Grüsse an dich. Morgen mehr.
J.

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