Samstag, 26. Februar 2011

10.
Heute hab ich mir eine Auszeit gegönnt; na ja, gegönnt, das klingt so edel, so souverän: in Wahrheit war ich so wacklig auf den Beinen, dass mir gar nichts Anderes übrig blieb. Ich verbringe heute einen Tag auf dem Balkon und weil ich Glück habe, den ersten warmen, seit ich hier bin. Meinen Brummschädel lassen wir mal außer Acht, die zittrigen Beine auch. Die zahllosen Kratzer an den Armen, im Gesicht und sogar am Bauch versorgte meine Minjonn auf rührende Weise mit einer Supercreme, deren Bestandteile sie mir wie immer wortreich erläuterte. Sie stinkt; man kann es nicht anders sagen. Ich hoffe, sie heilt. Jedenfalls kühlt sie angenehm und ich kann mich nun schon behaglich in der Sonne räkeln. Neben mir steht ein Tablett mit einem vergrößerten Frühstück, das den ganzen Tag abdeckt. Ein paar unbekannte Früchte und eine Art Knäckebrot, aber sehr würzig und nicht so staubtrocken wie wir es bei uns kennen.
Zuerst dachte ich schon, nun hab ich die Kleine den ganzen Tag auf dem Hals. Aber nachdem sie mir das üppige Frühstück auf ein Tischchen hinausgestellt hatte und nach der – ein wenig ruppigen – Becremung meiner Heckenkratzer zog sie sich zurück und ist bis jetzt noch nicht wieder aufgetaucht. Ach ja, einen wunderbar aromatischen Tee, keine Ahnung, was da wohl für Kräuter drin sind? hat sie mir auch noch hingestellt.

Erst mal wieder auf die Beine kommen, dachte ich mir, nicht zu grundsätzlich grübeln. Dass auf dem Balkon diese Kröte herumkroch, macht mir den Vorsatz ein wenig schwer, aber ich kann ja die Augen schließen.
Was für eine tiefe, oder soll man lieber sagen: hohe Stille. Jedenfalls eine mit viel Raum. Es klingt seltsam anders als auf meinem Balkon zuhause. Gibt es hier ganz andere Vögel? Der Wind in den Blättern der Bäume kann doch eigentlich auch nicht anders rauschen. Vielleicht liegt’s daran: Jedes technische, industrielle, soll man sagen: menschliche? Geräusch fehlt. Kein Auto, kein Motor, kein Flugzeug. Auch nicht das bei uns ja nie verstummende Grummeln der Großstadt. Ich schlafe immer wieder mal ein, aber fast scheint mir, als ob mich die Stille wieder aufweckte. Zwischendurch musste jemand da gewesen sein, ohne dass ich es bemerkt hatte: der Tee war erneuert worden und ein bisschen frisches Obst war hinzugekommen. Es ist mir seltsamerweise gar nicht unbehaglich. Das mit der Kröte, nahm ich mir vor, werde ich so bald wie möglich klären. Wenn doch dieser nette Alte von neulich Abend, mit dem ich die Suppe gelöffelt hatte, wieder käme; der einzige, mit dem ich mich verständigen kann.

Jetzt wird mir die Sonne, auf dem windgeschützten Balkon fast zu warm. Reingehen mag ich auf keinen Fall, aber den Brief breche ich ab. Die schönen Geräusche hören sich schon wieder so wolkig an, wie unter einer Decke, ich werde wohl gleich wieder einnicken. Rasch noch einen lieben Gruß an dich. Schreib mir.
J.

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