Sonntag, 27. Februar 2011

11.
Kannst du mir noch mal verzeihen? Oder hast du mich schon aus deiner Liste der zuverlässigen Freunde gestrichen? Ich geb’ zu, diesmal hab ich zulange gewartet, aber – deine Briefe kommen auch nicht gerade auf mich herabgeprasselt. Aber ich will mich damit nicht herausreden; es war hier einfach zu turbulent. Und du kennst es ja selber: wenn man erst anfängt, Briefe zu verschieben, dann staut sich der Stoff und ich kann dir versichern: ich hab seit meinem letzten Brief an dich soviel erlebt, ich könnte ganze Romane damit füllen.

Ja, wo fang ich nun an? Am Besten mit heute, am besten mit meinen Schmetterlingen. Hab ich dir – nein, natürlich nicht. Also: bei uns in Deutschland gibt’s die Brieftauben, freilich auch schon recht selten, vermutlich nur noch als Sport von verbohrten Vereinen; einen normalen Brief bekommt man auch bei uns nicht mit so einer Taube befördert. Hier tun das die Schmetterlinge. Aber man kann nicht von Schmetterlingsbriefen sprechen oder von Briefschmetterlingen. Das ganze System ist von unsrem grundverschieden. Wenn ich recht informiert bin, dann hängt man bei uns so einer Taube ein Röllchen mit Text an den Fuß und lässt dann das Tier fliegen; nach Hause, in seinen Heimatstall. Nein, man spricht ja von Taubenschlag. Du weißt, was ich meine. Mit den Schmetterlinge läuft das hier anders. Die „Nachricht“ tragen sie auf ihren Flügeln. Ich hab das Wort „Nachricht“ in Anführungszeichen gesetzt, weil das, was diese Schmetterlinge transportieren – nicht alle übrigens tun das – nicht normale Texte sind. Klar, soviel hat auf den zwei Flügeln gar nicht Platz. Es sind – sagen wir mal – Chiffren, Bildzeichen, jedenfalls keine Wörter. Zum Schreiben nutzt man Stifte; die kann man kaufen und damit bezahlt man zugleich auch das „Porto“.
Es gibt hier zahlreiche Schmetterlinge, viel viel mehr als bei uns; wunderschön in den Farben, bizarr in den Formen und ich hab einige Zeit gebraucht, bis ich unter ihnen die „Briefschmetterlinge“ herausfand. Denn alle setzen sich auf deinen Handrücken, wenn du ihn ruhig hinhältst. Aber nur bei den echten, den Briefschmetterlingen, kannst du mit diesem Stift auf den Flügeln kleine Veränderungen vornehmen. Der Haken: diese Muster haben eine feste Bedeutung, die man erlernt. Sie „bedeuten“ aber nicht so etwas wie bei uns randscharfe Begriffe, sondern arbeiten etwa so wie bei uns die Symbole; du kennst sie vielleicht auf Tarotkarten? Ich geb’ zu, sehr weit bin ich mit diesen Bildern und ihrer Bedeutung noch nicht gekommen. Selbst hier – hab ich mir sagen lassen – studieren manche Gelehrte ein Leben lang, wie sie die Tiefe und Vielfalt dieser Bilder deuten könnten.
Und noch ein zweites ist verschieden von dem, was wir mit Briefen verbinden. Sie sind nicht an einen bestimmten Empfänger gerichtet. Da würden die Schmetterlinge eh’ nicht mitspielen. Die Kunst des „Schreibers“ besteht darin, ein bedeutsames, schönes, vielfältiges Zeichen zu „schreiben“. Der „Leser“ aber muss seinerseits kompetent sein, dieses Zeichen möglichst weitgehend zu entziffern. Und was draus machen. So sind diese Briefe ein offenes Kunstwerk, ein Angebot zum Genießen, zum Grübeln, zum Kommentieren. Falls man überhaupt eine Ader für so was hat. So hab ich es mir wenigstens zurechtgelegt. Ich versteh ja inzwischen schon vieles, kann einiges sagen, aber leicht ist diese Sprache hier für uns ganz und gar nicht.

Ab sofort will ich wieder regelmäßiger schreiben, versprochen. Ich hab ja noch sooooviel nachzuholen.
Bleib mir gewogen und lass von dir hören.

P.S.:
Es gibt weniger Schreiber als Leser und auch nicht alle Leute können oder wollen sich mit so einer Botschaft beschäftigen, die per Zufall dahergeflattert kommt. Und Mühe macht.

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