Sonntag, 20. Februar 2011

4.
Du wirst es nicht glauben, liebe H.: mit so gemischten Gefühlen habe ich noch nie einen Brief von dir erhalten, nein gelesen, nein,- gehört. Du siehst, die Verwirrung hat sich noch nicht gelegt, das, wovon ich dir berichten muss, ist ja auch eben erst geschehen.
Was du noch nicht weißt: zu den wenigen Menschen, die ich hier schon kennengelernt habe, mehr oder weniger kennengelernt, gehört ein junges Mädchen, das mir morgens das Frühstück aufs Zimmer bringt. Ein liebenswürdiges Geschöpf, recht jung, seltsam strahlend und schön und doch zugleich scheu. Sie stellt mir Kaffee, Brot, frisches Wasser und einiges Herzhafte auf den Tisch, dabei macht sie zuvor und danach einen kleinen Knicks, der mir rührend filmhaft vorkommt. Hat sie alles aufgedeckt, schaut sie mich einen Augenblick wie abfragend an und trillert dann mädchenhaft zutraulich ein paar freundliche Sätze. Natürlich verstehe ich kein Wort. Fremder noch als die hier übliche Hochsprache ist der Dialekt, den auch dieses Mädchen spricht. Dann nickt sie, als wolle sie sich selber Recht geben und huscht wieder hinaus.
Heute nun, nachdem sie wie üblich das Frühstück auf dem Tisch angerichtet hatte, blickte sie mich einen Augenblick schelmisch an. Statt aber ihr Zwitschersprüchlein anzustimmen, griff sie in ihre Schürze und holte deinen Brief heraus. Ich erkannte ihn sogleich am farbigen Umschlag, deiner schön gedrechselten Handschrift. Erfreut griff ich nach ihm, da wich sie ein wenig zurück, drückte den Brief leicht an ihre Brust. Dann schloss sie die Augen wie ein Sänger, ein Schauspieler es tun mag, ehe er sein Solo anstimmt. Und dann las sie, nein natürlich nicht, dann rezitierte sie deinen Brief. Offenbar auswendig. Den Text verwunderlich verbeult von ihrer Aussprache. Sie sprach deinen Brieftext offenbar ohne Verständnis, wie man ein lateinisches Gebet spricht, ohne Latein zu können. Im Singsang ihres Dialekts. Ich starrte sie an, wusste nicht was ich machen, was ich denken sollte. Als sie mit dem Brief zu Ende war, öffnete sie wieder die Augen, das Lächeln kehrte in ihr Gesicht zurück, der übliche Knicks. Nein, zuerst reichte sie mir verschmitzt lächelnd den Brief. Als die Tür ins Schloss fiel, bemerkte ich erst, dass meine Empörung ausgeblieben war. Was für ein alberner Scherz dachte ich; mit welchem Recht öffnet sie meinen Brief, lernt ihn auswendig ohne ein Wort davon zu verstehen - -
Ganz betäubt vom durcheinander meiner Gefühle ging ich zum Fenster. Der Brief war verschlossen, er war nicht erbrochen; ich sah es an deinen Initialien, die du immer hinten auf die Klebestelle schreibst. Der ganze alberne Spionkram schoss mir durch den Kopf: über Dampf geöffnet, durchleuchtet, geröntgt, den Umschlag ausgetauscht usw. du wirst es nicht glauben, ich öffnete ihn nicht, sondern setzte mich verstört wieder an den Frühstückstisch zurück. Da lag er dann neben der Tasse und starrte mich an. Wie sollte ich die junge Frau zur Rechenschaft ziehen, da ich mich durchaus nicht mit ihr verständigen konnte? Als ich den Brief schließlich öffnete, überfiel mich eine neue Welle der Verwirrung: tatsächlich war der Wortlaut genau so, wie das Mädchen ihn deklamiert hatte. Ich hatte noch im Ohr, wie sehr sie mit dem Wort „Zauselchen“ kämpfte. Ich weiß wirklich nicht, wie ich dieses Erlebnis verarbeiten soll.

P.S:
Mein Gott, nun hab ich dir über all den hohen Wogen, die dieser Morgen in meiner unvorbereiteten Seele geschlagen hat, noch nicht einmal dafür gedankt, dass du mir nun doch – endlich – ein Lebenszeichen hast zukommen lassen. Was du schreibst, klingt munter und vielversprechend. Wenn wir mal den ominösen „Aussteigertyp“ außer acht lassen, mit dem du deine Wohnung teilst. (Warum eigentlich?). Das riecht nach Konflikt? Wenigstens ist es mal kein „älterer Herr“, der in deinem Leben als Liebhaber UND Arbeitgeber herumspukt. Nein, das war zu kess, das streichen wir rasch; du wirst das schon regeln. Ich hoffentlich auch. Vielleicht sollte ich als erstes ein paar Wörter der hiesigen Sprache erlernen. Mehr, wenn ich mich von dem Schrecken erholt hab. Genieß deine Tage und schreib mir bald mehr.
J.

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