Montag, 21. Februar 2011

5.
Ich habe mich wieder beruhigt; einigermaßen. Meine kleine Frühstückmagierin hat sich heute morgen nichts anmerken lassen, ich auch nicht. Die Geschichte mit deinem Brief lassen wir erst mal auf sich beruhen. Sie heißt übrigens, wenn ich recht verstanden habe Mignon, nach dem örtlichen Dialekt natürlich nicht französisch ausgesprochen; ehe wie Minjonn. Ich habe mich beruhigt, das ist ja auch dein Rezept: mit einem ersten größeren Spaziergang. Das Haus, in dem ich Unterkunft fand, liegt ja an einem Fluss. Dahinter ein Park, durch die winterkahlen Bäume sehe ich steinere Figuren, also wohl ein Schlosspark. Nun führen, nicht weit vom Haus entfernt, je links und rechts, schmale Brücken über das Wasser. Ziemlich genau vor dem Haus aber, am Uferweg, darauf hat mich meine Minjonn hingewiesen, führen Steintreppen hinab zum Fluss und da öffnet sich ein schmaler Schacht. Man muss auf einer Eisenleiter, auf Sprossen, die sich sehr kalt anfühlen, ins Dunkle hinabklettern. Ich wollte erst nicht, war misstrauisch, nein, das ganze war mir doch zu unheimlich. Minjonn aber zwitscherte auf mich ein, deutete immer wieder lachend zum anderen Ufer und versuchte mich mit sanftem Druck auf die Schulter zum Hinuntersteigen zu ermutigen. Sie amüsierte sich offenkundig über meine Ängstlichkeit; das war mir dann doch ein wenig peinlich. Und ich stieg hinab. Frag nicht, wie mulmig mir zu Mute war. Vielleicht sollte man sich in meinem Alter wirklich nicht mehr vor einem jungen Mädchen genieren.
Es ging ziemlich tief hinab, wurde immer dunkler, das heißt: das Lichtloch über mir wurde immer kleiner und dann waren die Sprossen zu Ende. Zaghaft tastete ich mit einem Fuß nach unten: da war ein Fußboden, ein kleiner Sprung genügte, ihn zu erreichen. Inzwischen hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Ein Gang, nicht sonderlich breit, aber lang; das Ende nicht absehbar, führte offenbar unter dem Fluss hindurch. Es war seltsam still hier unten und dann doch nicht. Der Fluss, von oben, vom Balkon aus zum Beispiel, war ja lautlos; hier unten aber hörte man ihn,- ja was? Nicht eigentlich rauschen, wie man das von Bächen kennt. Ein Geräusch, das, wie du weißt, mir sehr lieb ist. Es war ein Fauchen, wie man es von Gasflammen kennt, auch mein Computer macht so ein ähnliches Geräusch. Hier unter aber klang das Fauchen größer. Größer, nicht lauter. Es klang etwas von Zeitlosigkeit mit, jedenfalls von Dauer, jedenfalls nichts von Anfang und Ende.
Je mehr sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, um so durchscheinender kamen die Wände dieses Tunnels mir vor. Als wären sie nicht aus Beton oder sonst einer Mauer, als wäre sie aus mattem Glas? Bergkristall kam mir in den Sinn, nein irgend ein Stein, der noch Natur belassen ist, ohne den künstlichen Schliff, der ihn kantig macht, um ihm tausende von Reflexe zu entlocken. Die Wand fühlte sich kühl an und zugleich vibrierend, als könnte man das vorbeiströmende Wasser des Flusses spüren. Wenn ich weiterging, hörte man zwar das Echo meiner Schritte, aber sehr gedämpft, wolkig, nicht randscharf. Ein zuckendes Echo, wie Fledermausfliegen.
Als ich ungefähr in der Mitte des Flusses sein musste, kam die Besinnung zurück. Hier ist es nun am tiefsten, dachte ich, welch gewaltiger Druck wohl auf diesem Tunnel hier ruht,- und wenn er bricht? Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen anfing. Jetzt bloß keine Panik. Schweißausbruch, natürlich, weil es hier unten doch recht stickig war. So suchte ich mich zu beruhigen. Wie auch immer, raus, nur raus, dachte ich und zugleich: nicht rennen, sonst richtet die Resonanz meiner Schritte am Ende noch größeren Schaden an. Jetzt im nach hinein amüsiere ich mich über dieses Durcheinander und Übereinander von rationalen und panischen Impulsen.
Ich erreichte das Ende des Tunnels wohlbehalten, es wurde wieder heller und heller, und dann, allerdings rascher als beim zaghaften Hinabklettern, kraxelte ich die eisernen Sprossen wieder hinauf. Sonne, Luft,- und tatsächlich: ich war auf der anderen Seite des Flusses gelandet. Drüben stand immer noch Minjonn, die nun freudig winkte; sie hatte sich Sorgen um den Angsthasen gemacht?
Vom schönen und nun wirklich beruhigenden Spaziergang im Schloßpark bericht ich dir morgen. Oder heut spät Abend, bevor ich ins Bett geh.
J.
P.S.: Gibt es da, wo du bist, anständigen Wein?

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