Dienstag, 1. März 2011

13.
Ob man sich durch Reisen ändert? Sollte man eigentlich, oder? Ich glaub, ich hab mein Hören verändert, oder sagt man: mein Horchen? Ich höre mehr, auch anders, obwohl ich nicht auf Anhieb sagen könnte, in wiefern ich jetzt „anders“ höre. Differenzierter? Nein, das klingt so herzlos akademisch. Genauer? Eher vielfältiger – der Ausdruck gefällt mir am besten. Manchmal höre ich – so kommt es mir vor – heftiger, ja: heftiger. Ich höre heftiger als früher, zu Hause.

Das hat schon auch einen äußeren Grund: hier gibt’s weniger Lärm, also weniger Geräuschebrei. Den bei uns so dominanten Verkehrslärm gibt hier fast gar nicht. In der Abgelegenheit meiner Unterkunft sowieso nicht; aber auch in der Stadt ist es wesentlich leiser. Ich geb’ dir ein Beispiel. Vor ein paar Tagen wurde ich wach, ziemlich früh, weil in dem Bauernhof hinterm Fluss jemand ein Tor aufsperrte. Nein, es fing früher an; ich war ja schon wach. Zuerst hörte ich Schritte. Sie hatten so was seltsam Wirkliches, wie eine Zeichnung auf einem sonst weißen Papier. Als gäb’ es sonst nichts als diese Schritte. Sie fingen ganz klein an und wurden, indem sie näher kamen, immer größer. Dann das metallische Aufratschen eines Rollos, ein gewaltiger Kratzer ins Stille; volltönend, anschwellend, ankommend; ein Klang (nicht bloß ein Geräusch) wie eine Persönlichkeit. Danach eine kurze Zeit wieder nichts. Eine Autotür: auf; watsch: wieder zu. Dann der jammernde Anlasser, der Motor springt an. Das Auto fährt langsam rückwärts heraus, wendet und dann – das war fast das Stärkste: dann fuhr es weg. In einer schier endlosen Abblende. Das einzige Hörbare auf der Welt. Und irgendwann wieder Stille. Vollkommen, mit diesem – ich weiß nicht ob du das kennst – mit diesem Wummern an den Ohren, von denen man nicht sagen kann: kommt es von außen, kommt es von innen.

Nun denk bitte nicht, dass ich hier auf Esoterik mache. Es liegt wirklich auch – das hab ich dir oben schon angedeutet – es liegt auch daran, dass hier soviel Stille vorhanden ist. Da können dann Einzelgeräusche wie Soli von Sängern hervorstechen. Übrigens, hab ich den Eindruck, tut das sehr gut, dass es hier insgesamt nicht so lärmig ist wie bei uns in der Großstadt. Aber ich treib es noch weiter. Über’m Fluss, hinter dem Wald, wo ich ziemlich am Anfang mal so einen grausigen Durchhänger hatte, du erinnerst dich vielleicht. Also noch ein wenig weiter hinein in den Wald kommt man an einen Wildbach. Man hört ihn zuerst, findet ihn aber nicht, weil er hinter Felsen versteckt ist. Da gehe ich manchmal hin, nur zum horchen. Ich hab einen Felsvorsprung entdeckt, da kann man sitzen. Anfangs war mir der Platz fast zu gruslig, weil man von hier in einen Abgrund hinunterschaut, wo der Wasserfall landet. Das Wasser ist da dunkelgrün, auch wenn es schäumt. Das Fallen des Wassers, sein Fliessen, das hat so was Bindendes, man kann fast den Blick nicht abwenden. Aber ich komm wegen des Geräusches hierher. Ich kann es dir nicht beschreiben, ohne ins Schwärmen zu kommen. Es sind auf der Tonleiter viele Töne. Und jeder hat eine andere Farbe und wenn man die Augen schließt auch eine andere Breite, oder Dicke. Ich geb’s zu, das sind alles hilflose Metaphern. Der Begriff „Rauschen“ ist ja in seiner akustischen oder nachrichtentechnischen Definition als verminderte Information festgelegt. Der Träger, das Medium einer Nachricht drängt sich vor die Nachricht, „vernebelt“ sie. Gerade das ist es aber hier nicht. Mein Bach und sein Wasserfall haben die Botschaft, die sie tragen, in sich aufgesogen. Man könnte es auch weniger geschwollen sagen: hier handelt es sich nicht um Geräusch sondern um Musik. Wenn die Sphärenmusik des Kosmos für uns hörbar wäre, dann wäre das hier das Pendant auf Erden.
Du schüttelst besorgt deinen Kopf, brühst dir einen frischen Tee auf (Darjeeling? Oder den sündteuren Grünen?) und denkst dir: der arme Kerl. Nein, nein! Ich fühle mich so reich wie noch nie. Also mach dir um mich keine Sorgen.
Liebe Grüsse,
J.

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