Donnerstag, 3. März 2011

15.
Vielleicht ist das wieder so ein Beispiel für Doppelmoral? Ich kann mir nicht helfen, liebe H., - wenn ich selber depressiv bin, ja da komm ich mir irgendwie, was soll ich sagen? Da komm ich mir hellsichtig vor. Ich fühle: ich bin im Recht, die andern aber, diese leichtfertig Heiteren sind in meinen Augen oberflächlich, um nicht so sagen: beschränkt. Feiern ihr lachhaftes Leben, merken nicht, dass alles hohl ist. Ich muss dann an den Titel einer frühen Klee-Zeichnung denken: „Der Lachende hat die schlechte Botschaft noch nicht erhalten“. Durch all meine Düsterkeit, die Trauer, den Schmerz klingt dann immer noch etwas Heroisches. Die Welt rückt ins Ferne, ich selber aber bin mir näher als sonst.
Und wenn ich nicht depressiv bin, gar guten Mutes? Dann ist mein erstes Gefühl für so einen Verzagten,- Verachtung? Zumindest Langeweile. Auch Ungeduld und Enttäuschung darüber, dass mit ihm nichts anzufangen ist, dass er so wie er sich auch mich hängen lässt.
Mir ist das heut morgen erst so deutlich geworden. Der schwarze Fotograf, du erinnerst dich? Ich erzählte dir im letzten Brief von dem Paar, das nun in der selben Herberge wohnt wie ich. Heute Morgen hatte dieser Knabe offenbar seinen dunklen Tag. Er war mürrisch zum Reinhauen und maulte und wollte auf einmal überhaupt nichts unternehmen. Sie redet auf ihn ein, freundlich, geduldig mit ihrer Zwitscherstimme, aber das steigert offenbar nur seine miese Laune.
Wie auch immer, ich hatte nicht die geringste Lust, mich zu runterziehen zu lassen. Und bin allein losgezogen. Ich dachte, - das Wetter war schon seit Tagen so wundervoll klar – ich mach mir einen gemütlichen Tag am Tiefen See; von wegen. Vielleicht hätte ich mich nicht so aufregen sollen, ich hab’s aber gemacht.

Schon von weitem sah ich, dass irgendwas am Seeufer los war; eine Traube von Leuten. Kreischen, Gelächter und immer mehr drängten nach vorne. Ich natürlich auch. Was ich da sah, fand ich wirklich empörend. Es gibt hier ja gar nicht so selten eine Art Schausteller; Straßenartisten, Spaßmacher, Akrobaten,- Gaukler hätte man früher zu so was gesagt. Viele arbeiten auch mit dressierten Tieren. Die machen dann irgendwelche albernen Kunststücke, naja, wenn’s sein muss. Aber was hier am Seeufer ablief, das war pure Tierquälerei.
Zehn, fünfzehn Meter vom Ufer entfernt schwamm ein Paddelboot. Bis dorthin musste man es schaffen, dann mit dem Boot zum Ufer zurück, wer das schaffte, bekam irgend eine Riesenbelohnung,- soweit ich die Leute verstand, die ich fragte. Zu diesem Boot musste man aber erst hinkommen,- fahren, oder wie soll man sagen? Schwimmen? Man sollte zwei (dressierte?) Schwäne als Fahrzeug benutzen. Also auf sie steigen und sich von ihnen bis zum Boot, ja wie sagt man denn: schwimmen? fahren? tragen lassen? Es waren nur Männer, fette Wänste natürlich, die unter dem Kreischen ihrer Frauen, dem Grölen der Zuschauer ihr Glück versuchten. Natürlich viel zu schwer für die armen Schwänen. Dazu kam, - was für eine abstoßende Tierquälerei – dass diese Knallköpfe natürlich mit einem Fuß auf einen Schwan stiegen, der sofort tief unter Wasser getunkt wurde. Sie selber natürlich auch, weil sie sofort die Balance verloren, ins Wasser reinklatschten. Die Stimmung war riesig. Das ging so eine Zeit lang; ich kochte vor Wut, traute mich aber nicht einzugreifen. Mit meinen Sprachkünsten wär’ ich nicht weit gekommen, schon gar nicht in meiner Erregung. Ein halbes Dutzend Kerle hatten schon Schiffbruch erlitten und krochen triefend und prustend und grinsend den Beifall genießend aus dem Wasser heraus. Da tauchte ein kleiner Junge auf. Er stellte sein Surfbrett an’s Ufer, nahm kurz Anlauf und sprang mit beiden Füssen zugleich auf die Schwäne. Auch diesmal gingen sie ein bisschen in die Tiefe. Aber er war ja nicht schwer und dass er sein Gewicht auf beide Füße verteilte, war der entscheidende Trick. Und die Schwäne, also doch dressiert, brachten ihn tatsächlich bis zum Schiff. Und als er zurückruderte schwammen sie neben ihm her wie eine Eskorte. Du kannst dir vorstellen, wie groß der Jubel war. Und dann zum Schluss noch die größte Sauerei: im dem ganzen Trubel hatte sich der „Dompteur“ aus dem Staub gemacht und der kleine tapfere Junge ging ohne Belohnung und leer aus. (Ich hab ihm aber, ohne dass es einer gesehen hätte, einen ordentlichen Geldschein zugesteckt.)
Ich hoff’, deine Reise verläuft weniger aufregend. Bist du noch immer am gleichen Ort? Machs gut und schreib mir, auch wenn es bei dir gemächlicher zugeht.
J.

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