Mittwoch, 23. März 2011

25.

War nichts. Jemand hat mir eine Schale Obst in die Eingangshalle gestellt; das geschieht oft und ich weiß nicht einmal, wer mein Wohltäter ist. Die Leute sind hier unglaublich freundlich. Wunderbares frisches Obst!
Wo war ich? Ach ja, ich hatte dir von unserer seltsamen „Bettszene“ geschrieben. Offenbar war es Romana sehr peinlich, dass ich den Vorhang zuziehen wollte; mir war das Gegenteil peinlich. Zum Glück tauchte einer ihrer kleinen Geschwister auf; offenbar sollten wir zum Essen hinunter kommen. Ich war fast erleichtert, ehrlich gesagt, das waren Sitten, die mein Weltbild auf den Kopf stellten,- und es sollte noch schlimmer kommen.
Wie liebevoll der Tisch gedeckt war, Blumen an jedem Platz, Kerzen. Auf den Tellern hatte jeder einen kleinen Zettel. Jeder las seinen vor; mich übersprang man großzügig. Jeden legte sich selber auf aus großen Schüsseln. Als alle etwas auf ihrem Teller hatten griff ich zur Gabel und wollte anfangen zu essen. Romana, die rechts von mir saß hielt meine Hand fest und schaute mich dringlich an. Dann vertauschte sie meinen Teller mit dem ihren und ich sah beschämt, dass alle ihre Teller mit ihrem Nachbarn tauschten. Irritiert dachte, jetzt bloß nicht noch einen faux-pas und statt zu essen wartete ich ab. Zum Glück. Denn jetzt streckten alle ihre Hände aus und berührten damit das Gesicht ihres Nachbarns. Links neben mir saß ein sehr kleines Mädchen; das kam nicht hoch bis zu meinen Gesicht, da kletterte es einfach auf den Stuhl. Nun war aber das Gesicht seines linken, auch sehr kleinen, Nachbarn zu weit unten. Die Kleine konnte nicht gleichzeitig mich und ihren Nachbarn anfassen. Alle lachten gutmütig. Der Vater sagte etwas, worauf die Kleine mit einem größeren Geschwisterchen Platz tauschte – Als endlich alle zu essen anfingen, war mir fast der Appetit vergangen. Kleinlaut schaute ich mich nach allen Seiten um, es gab aber offenbar im Moment kein neues Fettnäpfen für mich und ich aß auch. Es schmeckte wunderbar, recht fremd aber wirklich gut. Nein, es schmeckte umwerfend. Anders als bei uns gab es nicht ein großes Gericht sondern sehr viele kleine und als wir endlich bei der Nachspeise angekommen waren, konnte ich fast nicht mehr.
Der Vater saß an einem Ende des langen Tisches, die Mutter am anderen. Beide haben mich sehr beeindruckt obwohl ich ja nichts von dem verstand, was sie sprachen.
Der Vater, groß, kurze Haare, einen ebenfalls kurzen Bart, erstaunlich helle Augen, von denen ich mir irgendwie durchschaut fühlte. Ich weiß auch nicht, warum. Er hatte eine seltsame Ausstrahlung von gütiger Autorität, wenn es so was gibt. Vielleicht sollte man sagen: von einer unangestrengten Autorität. Er fragte viel, hörte zu, akzeptierte durch ein warmes Lächeln,- du siehst, ich war gleich verknallt in ihn. Die Mutter sprach weniger, streckte manchmal die Hände aus, nach der die Kinder dann glücklich schnappten, stand auch hin und wieder auf und streichelte einem der Kinder kurz übers Haar. Ich muss sagen, ich fühlte mich beeindruckt.

Nach dem Essen versuchte mir Romana die Einladung ihres Vaters zu übersetzen, dass ich in ihrem Haus als Gast übernachten solle. Sie zeigte mir mein Zimmer; es lag neben ihrem. Die Kleinen wurden von der Mutter ist Bett gebracht, ich sollte ihnen noch gute Nacht sagen („sagen“ ist gut). Sie hielten mich zutraulich an den Händen und beinahe hätte ich ihnen eine Gute-Nachtgeschichte erzählt; irgendwie, kam mir vor, erwarteten sie es sogar.
Romana nahm mich mit auf ihr Zimmer, zeigte mir Zeichnungen, offenbar von ihr selber gemacht. Sehr niedliche, begabte Skizzen von Naturszenen, auch ein paar Portraits der Geschwister, der Eltern. Als sie sich zu entkleiden begann, wurde ich wieder rot – so oft wie hier bin ich seit Jahrzehnten nicht mehr errötet – und verzog mich zurück auf mein Zimmer. Dann erwartete mich freilich noch eine Katastrophe, mit der ich nicht gerechnet hatte. Du erinnerst dich, dass ich dir geschrieben hatte, dass es hier keine Türen gab. Das galt leider auch für die Toilette. Ich fand keinen Lichtschalter,- um ihn auszuschalten und setzte mich dann mit einem Stossgebet auf die Toilette: lieber Gott, lass niemanden kommen. Es gibt keinen Gott, jetzt weiß ich es. Auf dem Korridor vor dem Bad ging die Mutter vorbei und statt diskret wegzuschauen lächelte sie mir zu. Mir blieb das Herz stehen: einen Augenblick sah es so aus, aus würde sie vor dem Bad stehenbleiben um mir irgendwas zu erklären. Vielleicht war es mein Schweißausbruch, mein verzweifeltes Gesicht; jedenfalls blieb sie nicht stehen, sondern ging weiter, wohl, um Bettwäsche in mein Zimmer zu tragen. Verzweifelt spülte ich und vertiefte mich in ein endloses Händewaschen. Die Mutter aber ging in Romanas Zimmer, beiden scherzten und ich nutzte die Gelegenheit und huschte wie ein Taschendieb in mein Zimmer.
Bald wurde es still im Haus aber ich hörte alles. Wie eine kleine Nachtmusik rauschte ein Umdrehen, ein Bettdeckenrascheln, ein wohliges Gähnen und Seufzen durch das Haus. Eine Treppe tiefer war das Schlafzimmer der Eltern; natürlich ohne Tür. Ich hörte die beiden heiter und zugewandt plaudern; mein Name fiel wiederholt,- oh je, dachte ich; was die wohl von mir halten. Dann sprachen beide zur gleichen Zeit, vielleicht ein Gebet? Bald schliefen sie. Nun hörte ich den gleichmäßigen Atem Romanas aus dem Nebenzimmer aufblühen. Ich wär’ gern zu ihr gegangen, traute mich aber nicht. Sie war so nah und doch so fern. Und diese offenen Türen, nein, die türlosen Zimmer, dazu die großen Löcher in den Wänden, es war, als würde meine Decke über mir schweben statt mich zuzudecken. Irgendwann schlief sogar ich ein. Frag mich nicht nach meinen Träumen.
Bis bald und bleib munter:
J.

Keine Kommentare: