Dienstag, 22. März 2011

24.
Ahnst du, was mich schließlich doch aus dem Haus gelockt hat? Natürlich: ein Weibsbild. Ich saß auf dem Balkon, am späten Nachmittag; mit einem Glas Wein. Du weißt, ich trinke um die Zeit sonst keinen Alkohol. Ein wunderbar würziger, bernsteinfarbener Weißwein hatte es mir angetan. Er war zur Begrüßung auf dem Tisch gestanden, aber ich hatte ihn einige Tage lang gar nicht beachtet. Ich hatte ihn in den Kühlschrank gestellt und dort vergessen. Mit dem saß ich im Schatten auf dem Balkon und las, als unten der Kies von Schritten knirschte. Fast leise; als ging ein Kind den Weg entlang. Ich hatte tagelang keinen Menschen gesehen oder gehört. Neugierig fuhr ich aus dem Sessel auf und beugte mich über die Brüstung. Dabei entglitt mir der Stift, den ich beim Lesen immer in der Hand halte und fiel hinunter. Um ein Haar hätte er die junge Frau getroffen, die unten ging. Sie sprang erschreckt zur Seite, blickte hoch und begann zu lachen, mehr über ihren Schreck als über mein entgeistertes Gesicht. (Oder lachte sie doch über mich?). Ich entschuldigte mich verlegen aber sie lachte immer weiter. Dann bückte sie sich und versuchte, den Stift zu mir hochzuwerfen. Ohne Erfolg. Ich streckte mich nach unten, tat, als versuchte ich, meinen Arm wachsen zu lassen und so weiter. Ein munteres Spielchen und bald lachten wir beide wie alte Bekannte.
Erhitzt setzte sie sich auf eine Bank und ich bedeutete ihr, dass ich runterkäme. Sie nickte erfreut und ich beeilte mich.
Sie wartete, bis ich vor ihr stand, dann erhob sie sich, streckte mir ihre Handflächen hin und – da ich sie nur verwundert anstarrte – hob sie auch meine Handflächen in diese Stellung und berührte sie mit ihren Händen. Dann beugte sie sich vor und küsste mich auf den Mund. Ich war sehr verwirrt, begriff aber schnell an ihrer freundlichen Unbefangenheit dass das ein hier übliches Begrüßungsritual sein musste. Ich fürchte, ich wurde ziemlich rot. Und schon lachte sie wieder. Sie war jung, sehr schön, fand ich, ganz in weiß gekleidet. Kurze braune Haare, keinen Schmuck, hatte ein wunderbar offenes Gesicht, scharf blickende Augen, einen vollen Mund. Sie wirkte seltsam, wie soll ich sagen: rein? Nein, das klingt ja fürchterlich. Jedenfalls sehr zugewandt und trotzdem ganz authentisch. Sie sprach in einem musikalischen aber harten Dialekt oder gar einer anderen Sprache zu mir. Und wieder einmal verstand ich kein Wort; immerhin soviel, dass ich sie begleiten sollte, dass sie mir was zeigen wollte?

Nach einem flotten Spaziergang von etwa einer Stunde, sie hatte mich an der Hand genommen, führte uns ein schmaler und abschüssiger Weg in ein anderes Tal hinab und da sah man eine Art Siedlung, im Kreis um einen großen Garten herum gebaut.
Du musst dir das so vorstellen: zahlreiche, hübsche Häuser mit einem üppigen Blumengarten vorm Eingang waren kreisförmig nebeneinander gestellt. Durch die Zwischenräume sah man in einen großen Garten, fast schon ein Park, auf der Rückseite. Die Häuser sahen alle gleich aus, zwei Stockwerke, sehr große Fenster, hübsche Kamine auf dem Dach, hoch und tulpenförmig; erinnerten mich sofort an Venedig. Später, als ich drin war, merkte ich auch, dass die Häuser nach hinten viel länger waren als vorn in der Breite.
Das Mädchen rief etwas, später erfuhr ich, dass sie Romana heißt, da traten ihre Eltern und wohl einige Geschwister heraus und alle begrüßten mich auf die selbe verwunderliche Weise – Hände berühren, Kuss auf den Mund – wie es Romana getan hatte. Diesmal wurde ich nicht rot aber fühlte mich doch recht seltsam. Da ich ihre Sprache nicht verstand, konnte ich nur albern nicken und lächeln. Zum Glück zogen sich die Eltern bald zurück; Romana sollte mir offenbar das Haus zeigen und die kleinen Geschwister hängten sich schnatternd und kichernd an uns ran. Da alle hier im Haus die selbe Kleidung trugen – Romana hatte sich auch rasch umgezogen – konnte man bei den Kindern nicht so ohne weiteres unterscheiden, ob es Jungs oder Mädchen waren.
Alle Zimmer das Hauses waren ungewöhnlich hell, Licht durchflutet von den sehr großen Fenstern. Seltsamerweise hatten auch die Wände große runde Fenster von einem Zimmer zum anderen. Zwar mit Glas, aber trotzdem kamen mir dadurch die Zimmer seltsam offen, unabgeschlossen vor. Türen gab es im Haus überhaupt keine; das ist mir aber erst später aufgefallen. Am Ende der Führung landeten wir in Romanas Zimmer; es passte sehr gut zu ihr, obwohl ich nicht hätte sagen können, warum. Wenig Möbel, ein Schreibtisch mit Blumen, ein Regal mit alten Büchern, keine Bilder an den Wänden. Aber ein großes Bett, ein breites Doppelbett, mit einer wunderschön bestickten Tagesdecke, stand in der Mitte des Zimmers. Romana hopste auf das Bett, räkelte sich gut gelaunt und streckte die Arme nach mir aus. Ich sollte mich dazulegen? Verwirrt schaute ich zu den Kindern, doch die machten es sich auch schon bequem auf dem Bett, sozusagen zu unseren Füssen. Und da Romana nicht aufhörte, mich mit ausgebreiteten Armen einzuladen, kroch ich zögernd und umständlich auch auf das Bett. (Natürlich wurde ich wieder rot, was die Gören offenbar bemerkten und mit Beifall und Gelächter kommentierten). Romana zog mich an sich und küsste mich, diesmal ohne das Händepatschen. Den kleinen Bettgästen schien das völlig normal; sie hatten ihr Interesse an uns verloren, auch an mir und fingen irgend ein Spiel an. Zum Glück ertönte von unten der Ruf der Mutter und alle stürmten davon.
Ich befreite mich aus Romanas Umarmung, glitt vom Bett und ging zum großen Fenster auf der Straßenseite und zog den Vorhang zu. Noch ehe ich zum Bett zurückkam, war Romana aufgesprungen, peinlich berührt, fast entsetzt zog sie den Vorhang wieder auf. Sie sah mich mit großen Augen an, fast vorwurfsvoll, wie mir schien. Dann legte sie sich wieder hin und lächelte mich erwartungsvoll an. Nun verstand ich gar nichts mehr. Ich nahm – oh entschuldige, es klopft unten an meiner Haustür, ich muss mal rasch nachschauen, wer das ist - „hold the line!“.

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