Samstag, 5. März 2011

16.
Wie nah man am Abgrund latschert; ein falscher Tritt und man ist geliefert. Dass ich so rasch und so gründlich in eine Katastrofe schlittern würde, hätte ich mir nicht vorstellen können. Vielleicht sollte ich dich nicht beunruhigen; du kannst mir sowieso nicht helfen, und vielleicht bin ich schon aus dem Schlamassel, wenn dich mein Brief erreicht – falls er dich jemals erreichen sollte. Ich bin auf der Flucht, und ich nutze eine kleine, notwendige Verschnaufpause, um mich durch das Schreiben selbst zu beruhigen. Darum auch nur in Stichworten. (Entschuldige das Papier: mein Essen war damit eingewickelt).
Ich hatte dir – glaub ich – zuletzt von meiner Empörung über die Tierquälerei mit den zwei Schwänen am Tiefen See berichtet. Als der Spuk vorbei war, hatte ich keine Lust mehr, mich ins Café zu setzen; ringsum war ja noch immer dieser Pöbel, der sich so amüsiert hatte. Da kam ich auf die Idee, ich hatte das schon lange vor, den alten Schäfer zu besuchen, der mir damals diese vertrackte Steinkröte geschenkt hatte,- nach unserer grausigen Sauferei. Inzwischen kannte ich auch einen weniger beschwerlichen Weg zu seiner Hütte im Wald. Vom See aus war es allerdings ein gutes Stück Weg. Das war mir gerade recht; der Fußmarsch würde mir helfen, meine schlechte Laune verdampfen zu lassen.
Schon in einiger Entfernung hatte ich den Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung sei. Rauch stieg hinter den Bäumen auf, aber nicht jene dünne Rauchfahne, die darauf hindeutete, dass der Alte sich was zusammenprutzelte. Es sah aus, als brenne es. Ich beeilte mich, so gut ich konnte und tatsächlich: sein Schuppen stand in Flammen. Und er lag vor seiner Hütte, offenbar verletzt, blutüberströmt und unbeweglich. Du kannst dir vorstellen, wie mir der Schreck in die Glieder fuhr. Ein Überfall? Räuber? Aber was war bei dem guten Alten schon zu holen? Verzweifelt überlegte ich einen Augenblick, ob ich mich um das Feuer oder lieber erst um ihn kümmern sollte. Er wirkte wie tot, am Kopf hatte er eine große Wunde. Er lag da, mit dem Gesicht nach unten im Gras. Vorsichtig drehte ich ihn um; er atmete, stöhnte leise. Und hinter mir brannte die kleine Hütte, in der er sein Werkzeug hatte, noch durch die Flammen sah man, dass dort alles durchwühlt war. Was hatten die Räuber dort bloß zu finden gehofft? Die Hütte, eher ein Verschlag war aus Holz: es knatterte und die Flammen wuchsen schnell in die Höhe. Da würde ich nicht mehr viel mit löschen ausrichten. Aber wie konnte ich verhindern, dass das Feuer auf das Häuschen übergriff und wie sollte ich den Verwundeten versorgen. Ich war einen Augenblick vollkommen verzweifelt. Da hörte ich Stimmen, die rasch näherkamen. Ich richtete mich auf, schwenkte meine Jacke und schrie immer wieder: „Hier her“. Was für ein Unsinn, das Feuer war nun wirklich nicht zu übersehen. Zuerst wunderte ich mich, dann begriff ich: die Leute schrien, gestikulierten und deuteten immer wieder auf mich. Sie hielten mich für den Täter! Und nun sah ich auch, dass es Polizisten waren, oder Soldaten, jedenfalls waren sie bewaffnet und zielten, noch im Laufen, mich. Nun packte mich vollends die Panik. Meine Hände waren blutverschmiert, außer mir war hier niemand zu sehen und wie sollte ich den aufgebrachten Leuten mit meinen erbärmlichen Sprachkenntnissen die Lage erklären? Weg, bloß weg, war mein einziger Gedanken, dabei ist das Wort Gedanken bestimmt übertrieben. Man sieht schon, wie hirnlos ich handelte: ich riss mir meinen Rucksack von der Schulter und rannte davon. Hinein in den kleinen Bach, er ist nie tiefer als einen halben Meter. Er führt am schnellsten aus der Lichtung hinaus in den Wald. Die Leute schrien, wohl dass ich stehen bleiben sollte und dann schossen sie hinter mir her. Ich warf mich in den Bach und krabbelte, paddelte auf dem Bauch weiter. Als ich mich wieder aufrichtete, hörte ich die Schüsse und spürte auch gleich etwas an meiner Schulter und an meinen Haaren. Aber nicht wie den Einschlag einer Kugel; es klatschte eher, wie ein sehr feuchter Waschlappen. Es tat auch nicht weh. Und dann krauchte ich um eine Biegung und war aus der Schusslinie und bald schon im Wald. Seltsamerweise folgte mir niemand. Keuchend setzte ich mich an den Bachrand. Nun kam auch langsam mein Verstand zurück und ich dachte verzweifelt: Was nun?
Ich will es kurz machen: Ich kam in der Herberge an, halb tot vor Erschöpfung und bis zum Zerreißen angespannt und nun wieder ganz kopflos.
Minjonn lief mir entgegen, prallte aber erschreckt zurück und hielt sich die Nase zu. Jetzt bemerkte ich selber, dass ich wahnsinnig stank. Wir hasteten auf mein Zimmer, da zeigte mir Minjonn im Spiegel, dass ich hinten an der Jacke bis rauf zu den Haaren, wo der „Schuss“ mich getroffen hatte, grellrot gefärbt war. Und von daher kam auch der scharfe Geruch. Minjonn war ziemlich hektisch; verschwand und kam schon bald wieder: mit einem großen Fresspaket; da hatte sie alles Mögliche in Eile in der Küche zusammengerafft. Sie drängte mich, die Kleider zu wechseln; der Geruch und übrigens auch die Farbe waren aber schon auf meinen Körper übergegangen. Dann mahnte sie mich zu fliehen und führte mich durch einen Kellergang zu einem Ausgang des Hauses, den ich noch nicht kannte. Er führt auf ein Feld am Waldrand. Sie hielt sich noch mal die Nase zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen rührenden Kuss. Dann einen Schubser und ich rannte los.
Jacob.

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