Donnerstag, 24. Dezember 2009

Buchstabenflucht

Beim Lesen huschen ihm die Worte, die Sätze davon wie die Zweige des Sisyphus, weichen zurück wie das Wasser, nach dem der Unselige durstig tappt. Er versucht es mit behutsamem Umblättern, auch mit raschem; gleichsam als Überraschungsangriff. Oder wie geistesabwesend an der Ecke der Seite spielend, ehe er hurtig das Blatt wendet. Vergebens. Wie ihm zum Hohn zeigen sich die schwarzen Zeichen im ersten Augenblick, um dann sogleich wie Sand vom Papier herabzurieseln. Manchmal ist es ihm, als höre er sie auf den Boden aufschlagen, Reiskörnern nicht unähnlich. Dass er die einzelnen Buchstaben in ihrem Fallgeräusch unterscheiden könnte, ist übertrieben, obschon sie beim Aufprall nicht alle gleich klingen. Stellt er das Buch schräg auf die Tischplatte, kann er den Druckerstaub vom Tisch blasen.
Er reißt mit Unbehagen einzelne Seiten aus einem Buch, legt sie wie nachlässig in Ecken des Zimmers, sie bleiben leer. Erst wenn er sie zusammenknüllt, füllen sie sich wieder mit Worten. Doch nur solange, bis er die Seiten glättet. Eines Abends entdeckt er, dass sie im Spiegel sichtbar bleiben, nicht lang genug freilich, denn es braucht viel Zeit, die Spiegelschrift zu entziffern.

Anfangs verbirgt er sein Missgeschick vor anderen. Im Bett, neben seiner Frau, blättert er in Abständen um, wenn er glaubt, er müsste die Seite jetzt gelesen haben. Wenn sie fragt: „Was liest du?“ hält er ihr schweigend das Buch hin, sie wirft wohl einen Blick hinein, schüttelt bald lachend den Kopf und gibt ihm das aufgeschlagene Buch zurück: „Was du aber auch immer für ein komplizierte Zeugs liest“. Er versucht es anders: „Wie findest du die Schrift?“, fragt er freundlich. Sie lässt sich das Buch noch Mal reichen und erwidert dann ein wenig unsicher „Normal, oder was meinst du?“ „Kannst du die Schrift lesen?“ fragt er betont sachlich. „Mit der Brille geht es gut. Warum? Hast du Schwierigkeiten?“ „Na ja“ weicht er aus. „Vermutlich bist du müde, wir sollten lieber das Licht ausschalten.“

In den nächsten Tagen wird es nicht besser. Konnte er anfangs wenigstens noch die Titel der Bücher erhaschen, ehe sie wie Pfützen unterm Föhn in die Unsichtbarkeit verdunsteten, so war es ihm bald nur noch möglich, die Bücher nach ihrer Dicke und ihrem Format zu erkennen. Auch nach der Farbe des Einbands oder des Umschlagbilds. Freilich auch nur jene, die er sich zur Lektüre aufs Fensterbrett gelegt hatte. Die Bücher im Regal wandten ihm nun stumm ihren wortlosen Rücken zu.
Er wollte seiner Frau vorschlagen, sich wie früher einander vorzulesen, verwarf aber den Gedanken sofort, weil er ja auch bald an der Reihe gewesen wäre. Dann hätte er höchsten improvisieren können, einen Text aus dem Stegreif erfinden...
Mit dem mechanischen Umblättern der für ihn nun leeren Seiten verbrachte er die folgenden Abende ohne Aufmerksamkeit zu erwecken. Als sie ihn eines Abend kopfschüttelnd einen Brief von ihrer Schwester hinhielt, sagte er mürrisch, nachdem er einige Zeit vergeblich auf das Papier gestarrt hatte - auch die Hand geschriebenen Buchstaben löschten sich vor seinen Augen aus - „Die Klaue kann ich auch nicht lesen.“

Um vor seinen Freunden, die ihn als emsigen Leser kannte, nicht plötzlich dumm dazustehen, informierte er sich nun intensiv aus Radio- und Fernsehsendungen über neue Bücher, telefonierte auch öfter als zuvor mit seiner Schwester und fragte sie dabei über ihre Lektüre aus, ja bat sie, für ihn Buchbesprechungen aus der lokalen Zeitung vorzulesen. Sie tat es ohne Anteilnahme für die Bücher, aber verführt vom ungewohnten Interesse ihres Bruders für sie und aus Hoffnungen
auf weitere Telefonate, mit denen er früher sehr gegeizt hatte.

Wie sollte es weitergehen? Das Lesen war ihm seit jeher unentbehrlich und er fühlte sich nun täglich ärmer, ja beraubt. Nur was er selber schrieb, verharrte auf dem Papier. So begann er die nun nutzlos gewordenen Bücher, Band für Band als Tagebücher zu nutzen. Vor seiner Frau verbarg er dies, als sie nach einem zufälligen Blick in solch ein von ihm neu beschriebenes Buch ausrief: “Oh Gott, was machst du denn hier? Ist das etwa moderne Kunst?“
Wenn er nach einiger Zeit eines der Bücher, das er mit seinem Füller wie ein Notizbuch neu beschrieben hatte, durchblätterte, kam es ihm vor, als schlüge der alte, gedruckte Text wieder durch und lasse seinen eigenen ertrinken. Für kurze Zeit bot sich dann der Originaltext seinen lesenden Augen dar,- in seiner Handschrift, die zusehends von den Druckbuchstaben überwuchert wurden. Um dann wieder zu verbleichen. Da wurde er sonderlich und kehrte von endlosen Spaziergängen immer später nachhause.

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