Samstag, 19. Dezember 2009

regen von lucca


Der Regen von Lucca

Fast alles verdross ihn, bloß die Kalkflecken vom letzten Regen, die wie durchsichtige Vorhänge an den Scheiben des Eisenbahnwagons klebten, gaben ihm das Gefühl einer leichten Beruhigung. Sie blieben unverändert, während draußen die regengraue Landschaft vorbei kroch.
Er hätte nicht zustimmen sollen, zu verreisen, er hätte es besser wissen müssen. Daheim war alles vertraut, Überraschungen konnte man spielend zuvorkommen. Die Gewohnheit und eine aus-reichende Anzahl selbst gewählter Rituale saßen dort dicht und undurchlässig rings um seine Seele. Da pfiff kein Wind der Improvisation durch, da scheuerte keine unausweichbare Zumutung an ihm.

Wenn man robust ist, dachte er neidisch, kann man sich das Reisen erlauben; wenn man einen natürlichen Schutzschirm rings um sich trägt. Mit Ekel machte er sich dünner, damit eine stämmige, junge Frau mit ihrem Rucksackgebirge sich an ihm vorbeiquetschen konnte. Die Riemen drückten ihre Brüste wie Säcke auseinander. Was sonst noch alles an den überprallen Taschen des Rucksacks baumelte, rutschte ihm unangenehm über die Schulter. Reisetier, dachte er angewidert; Gepäck und Träger verschmelzen. Er überlegte, was er alles hätte mitnehmen müssen, um sich hier wohl zu fühlen. Wohlfühlen? dachte er höhnisch. Wenigstens nicht zu leiden, das wär’ schon was.

Der rücksichtslose Lärm der schmetternden Motorräder tat ihm weh. Noch unerträglicher war ihr Gestank. Was sollte er hier?! Kunst konnte er behaglicher im Bildband studieren; ohne Wartezeit vor dem Museum. Am Kaufen hatte er kein Interesse: Kleidung, Fotoausrüstung, Vitamintabletten hatte er reichlich mitgenommen. Sogar die kleinen Notkekse für den plötzlichen Hunger hatte er eingesteckt. Er sah der jungen Alternativtouristin grimmig nach: Die kann vermutlich sogar mitten auf der Kreuzung einschlafen, ihm half nicht einmal das ruhigste Hotelzimmer zum Hinterhof. Seine Freundin mokierte sich, wenn er sich wie ein verwundeter Elefant endlos im Bett herumwarf, um eine befriedigende Haltung zu finden. Das heißt, sie bemerkte höchstens dann etwas, sie war ja schon lange tief eingeschlafen, wenn er schimpfend wieder aus dem Bett sprang, das große Licht anschaltete, um sich Schlaftabletten zu holen. Da er in den Ohren dicke Gummipolster trug, entging ihm, dass er, selber fast taub, einen Höllenlärm verursachte: durch sein Geschimpfe, sein Herumstapfen, das endlose Abkühlenlassen des Wassers für die Tabletten und, wenn er sich am Ende zurückwarf aufs Bett wie ein riesiger Stein.
Zuhause saß er die halbe Nacht am Computer und arbeitete konzentriert, fast glücklich an seinen Fotos. Wenn er den Schlaf näher kommen fühlte, auch daheim gab der sich zickig, immer zur Flucht bereit, mühte er sich, ihn nicht wieder zu verscheuchen. Er versuchte ihn herbeizulocken wie ein scheues Tier, nach dem man sich keineswegs umdrehen darf, indem er Literaturkassetten hörte. Zum tausendsten mal Die Buddenbrooks. Der Text beruhigte ihn am sichersten. Kroch er dann endlich in sein Bett, weil er sich reif fühlte, roch alles vertraut, federte oder federte nicht, wie er es kannte. Das Kopfkissen blähte sich keinen Millimeter auf, sank auch nicht in sich zusammen wie eine löchrige Luftmatratze. Hier in Florenz hatte er das beängstigende Gefühl, als wohne er in einem Haus auf Sand. Bei ihm zuhause war das Telefon auf den unhörbaren Automaten umgestellt, die Türglocke ausgeschaltet; die Fenster geschlossen. Nichts knarrte, nichts quietschte, niemand schnaufte in sein Ohr. Er war beruhigend allein.

Seine Freundin, die wegen seiner nächtlichen Gereiztheit im Urlaub nun auch weniger gut schlafen konnte als sonst, hatte ihren Kopf an seine Schulter gelegt. Der Vorortzug nach Lucca schüttelte sie wie im Schluchzen. Er blickte genervt an sich herunter: seine Hosenbeine hatten einige Dreckspritzer vom regennassen Weg abbekommen. Er war, wie immer, ganz in schwarz gekleidet. Gestern im Museum hatte ihn eine reifere Dame deshalb für einen Pfarrer gehalten. Das hatte ihn für einen kurzen Moment amüsiert und er hatte ihr irgendwas Albernes geantwortet.

Er fand keinen Trost durch die körperliche Nähe seiner Freundin. Er nannte dergleichen öffentliche Zärtlichkeiten klebrig, und vermied es auch, wie die meisten anderen Paare, Hand in Hand mit ihr zu flanieren. Er schützte vor, er müssen die Hände frei zum Fotografieren haben. Oft sagte er aber auch heftig: „Du weißt doch, ich mag das nicht.“ Dann blieb sie für kurze Zeit schmollend einige Schritte hinter ihm zurück...

Der Regen hatte wieder eingesetzt, daran verdross ihn eigentlich nur, dass der beruhigende Vorhang der Wasserflecken vom Abteilfenser aufzuweichen und zu verschwinden begann. Er grübelte über den Widerspruch nach, dass er allezeit auf der fast verzweifelten Suche nach Neuem war, es aber keineswegs in einer fremden Umgebung erwartete, vielmehr im Alltagstrott. In einer durch und durch vertrauten, berechenbaren Umgebung. Wohl war er von einer unersättlichen Neugier auf unbekannten Menschen, vor allem Frauen. Er versprach sich mehr von ihnen als von Bekannten, doch nur, wenn der Fluchtweg in seine Wohnung ihm nicht versperrt wurde. Er setzte keine Hoffnung oder Erwartung darauf, dass ihn eine fremde Umgebung inspirieren könnte. Ja, wenn alles ganz anders wäre und doch genauso wie daheim, dachte er ironisch. Er wusste, das war kindisch, aber das war nicht der einzige Widerspruch in seinem Leben, den er genau kannte ohne ihn ändern zu können. Zu wollen?

Der Zug ruckelte in den Bahnhof von Lucca ein und er bedrängte seine Freundin nervös, endlich ihre Tasche, den Schirm und den Mantel zu nehmen und auszusteigen. Er hatte Angst, der Zug würde weiterfahren, ehe sie draußen wären. Seine Freundin versuchte ihn kindlich stolz auf ihre neue Ledertasche hinzuweisen, die er ihr gestern - aus schlechtem Gewissen wegen seiner Gereiztheit? - gekauft hatte, er hatte jetzt aber keinen Sinn dafür. Er schob sie nervös zum Ausgang. Sie inszenierten dabei wie gut vorbereitete Schauspieler ihr immergleiches Spiel: sie schmollte, schaute ihn wortlos strafend an, blieb vorwurfsvoll stehen, bockig wie ein Eselchen, er ging er einfach weiter, kehrte dann aber nach einigen Schritten um, nahm sie kurz in den Arm oder streichelte sie über ihr Haar. Dazu machte er kalt eine ketzerische Machobemerkung. Gestik und Worte gaben einander Unrecht, man konnte es sich aussuchen, und sie suchte sich immer die Geste aus und lenkte ein.

Nach einem kurzen Rundgang durch die engen Gassen, einem kleinen Verweilen auf dem regennassen Platz des anfiteatros drängte er darauf, zu essen. Auch sie hatte Hunger, doch konnten sie sich nicht auf ein Restaurant einigen. Er wollte auf keinen Fall draußen sitzen, er fror rasch. Schließlich stimmten beide zu, in das historische Cafè da Simo zu gehen.

Es war überfüllt, schlechte, verrauchte Luft schwebte unter der niedrigen Decke über den Tischen und die Bedienung rauschte gehetzt an den Gästen vorbei. Von einem Podest wehte der schwere Duft eines riesigen Lilienstraußes herüber. Sie saßen einige Zeit wortlos und müde an einem Tisch mit den Speiseresten ihrer Vorgänger. Wiederholte freundliche Blicke und auch ein schüchternes Ansprechen ließ die Bedienung kalt. Empört fuhr er hoch, er wollte wieder gehen. Seine Freundin zog ihn auf den Sitz zurück und tatsächlich kam jetzt die Bedienung an den Tisch, um jedoch sogleich ungefragt zu erklären, dass es nichts mehr zu essen gäbe. Auch keine belegten Brote? Die schon, auch Kuchen. Und schon war sie wieder verschwunden.

Sie beratschlagten, kamen aber zu dem Ergebnis, dass es ihnen um diese Zeit vermutlich überall nicht viel besser gehen würde und entschlossen sich, zu bleiben. Sie bestellte einen Kaffee, als die Bedienung wieder einmal vorhuschte, er heiße Schokolade, dazu für jeden ein panino. Als die Getränke kamen, war er verdutzt über seinen Kakao. Er war dick wie flüssiger Schokolagenpudding. Das erheiterte ihn seltsamerweise und er schien für einen Augenblick seine gute Laune wieder gefunden zu haben. Amüsiert ließ er den dickflüssigen, dunkelbraunen Saft vom Löffel in die Tasse tropfen und grinste seine Freundin anzüglich an. Sie machte ihm den Gefallen und sagte vorwurfsvoll wie eine Mutter: „Also weißt du...“ Das vermehrte seine gute Laune.

Er fing an, wie aufgewacht, einen längeren, engagierten Vortrag über die ungeheuren Einsichten der modernen Physik zu halten. Seine Stimme wurde dabei laut wie im Hörsaal, ja richtig aufgeregt. Seine Freundin versuchte mehrmals, ihn zu dämpfen, mit einem peinlichen Blick ringsum auf die Leute, die indes durchaus mit sich selber beschäftig waren. Als er nicht aufhörte, kroch eine dickflüssige Müdigkeit, der Trinkschokolade ähnlich in ihren Kopf, ihre Augen wurden klein und ihr Blick starr. Empört brach er seine Ausführungen ab und widmete sich wieder dem Tropfspielchen mit seinem Kakao. Ihre Versuche, ihre Müdigkeit zu erklären, ließ er unberührt an sich abprallen.

Er konnte dennoch nicht darauf verzichten, ihr zu erklären, was in seinen Augen daraus folge: dass wir in einem winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit lebten. Der Rest war uns unzugänglich, in einer höheren Ebene aber, so glaube er immer fester, habe unser Dasein einen sicheren Sinn. Wir seien nicht länger Haufen von Molekülen, sinnlos und zufällig zusammengepfercht um ebenso sinnlos nach einem Leben wieder zu verfallen. Sie nickte lebhaft, um ihr Einschlafen vor einigen Minuten wieder gut zumachen.

Sie eilten zum Bahnhof zurück, um den Zug um 18 Uhr noch zu erwischen. Er nahm sie dabei sogar an der Hand. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um ihre Fahrkarte zu entwerten und rasch einzusteigen, dann fuhr der Zug sie zurück nach Florenz.

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