Donnerstag, 24. Dezember 2009

Flaschenpost


Der Ober tritt an meinen Tisch, legt mir einen zusammengefalteten Zettel neben das latte macchiato Glas und sagt mit professioneller Glätte: „Bitte sehr. Von der Dame am Fenster.“
Ich schaue verwundert auf: es gibt drei Fenster, an zweien sitzt jeweils eine Frau. Eine hebt ganz wenig und ernst den Zeigefinger, verzieht aber keine Miene dabei. Neugierig falte ich den Zettel auseinander. Ein schweres Büttenpapier. Innen ist mit lila Tinte und einer zierlichen Schrift geschrieben: „Mein Herr, ich bitte Sie höflich darauf zu verzichten, mich anzustarren.“

Ich bin empört und winke den Ober herbei. „Was soll das?! Ich lese friedlich meine Zeitung, diese Frau dort hatte ich bis jetzt noch nicht einmal bemerkt. Wie kommt die dazu –„
Er hebt nur die Augenbrauen einige Millimeter und sagt ungerührt: „Sie können ihr ja zurück schreiben.“ „Das ist doch albern“, maule ich, hole dann aber doch meinen fineliner heraus – grün – und schreibe auf die Rückseite ihres Zettels: „Ich starre keine fremden Frauen an, selbst dann nicht, wenn sie verschroben sind.“ Nein, das war flegelhaft, ich durfte mich nicht provozieren lassen von ihr. Ich strich den Nebensatz durch und überlegte, ob mir nicht was Geistreicheres einfiele, doch da hatte der Ober den Zettel schon geschnappt und brachte ihn zu der Frau am Fenster zurück. Erst wollte ich protestieren, den übereifrigen Kellner zurückpfeifen. Aber es war eh schon zu spät und ich wollte hier im Café kein Spektakel machen. Unschlüssig schaute ich hinüber zu ihr. Sie nahm die Nachricht, las; wieder verzog sie keine Miene, schaute nicht auf, schaute nicht herüber zu mir. Sie legte den Zettel unter ihre Tasse, riss einen neuen aus ihrem Heft. Das war offenbar gar kein Tagebuch, sondern ein Block mit Zetteln. Sie beschrieb das Blatt, ohne sich zu besinnen und schob es an den Tischrand. Der Ober, als sei er mit dem Spielchen bestens vertraut, nahm ihn und brachte auch diese Botschaft an meinen Tisch.

Amüsiert winkte ich hinüber zu ihr, aber sie blickte nicht auf. „Dumme Gans“, murmelte ich, aber dann wurde mir bewusst, dass ich sie ja nun tatsächlich anstarrte. Kopfschüttelnd widmete ich mich wieder dem Zettel vor mir.
„Mein Herr, Sie erschrecken mich. Sie machten auf mich einen Eindruck von größerer Sanftmut.“
Du lieber Gott, ganz schön überkandidelt! Ich schaute wieder hinüber: sie war keine dreißig, eher sportlich gekleidet, genau genommen recht sexy. Warum schrieb sie so seltsam? Warum schrieb sie überhaupt, statt einfach mal freundlich zu mir herüberzulächeln. Sollte ich einfach rüber gehen? Mich vorstellen, fragen, ob ich mich zu ihr setzen dürfe?
Nein, das wäre doch zu aufdringlich. Vielleicht hatte ich vorhin bei einem Rundblick durchs Lokal meine Augen zu lange auf ihr verweilen lassen. Sie sah wirklich sehr attraktiv aus. Meine Cafehausgemütlichkeit war jedenfalls weg. Mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Fühlte sie sich nun von mir wirklich belästigt oder wollte sie auf diese verdrehte Art mit mir anbandeln? Eine Mimose oder eine Zicke? Ach was, Schluss mit dem Kasperltheater, ich geh jetzt einfach hinüber zu ihr. Ich rückte meinen Stuhl zurück, da drückte mich der Ober sanft auf den Sessel zurück und raunte mir zu: „Sie haben die letzte Botschaft noch nicht beantwortet.“

Aha, ein abgekartetes Spiel, der Ober steckte unter einer Decke mit ihr. Vermutlich machte sie das Spielchen nicht das erste Mal, war Stammgast in diesem Café.
„Wie heißt sie denn?“ frage ich den Ober und deutete feixend mit dem Daumen hinüber. „Bedaure“, antwortete der Ober professionell. „Die Dame ist zum ersten Mal in unserem Café.“
Das hätte ich mir denken können, die zwei hielten natürlich zusammen. „Verzeihung“, sagte der Ober und ging zu einem anderen Tisch, wo jemand etwas bestellen wollte.

Na gut, dachte ich, machen wir weiter. Ihre Schrift gefiel mir, sie war nicht so fahrig und zuckend wie meine. Sie war irgendwie – ja was eigentlich? Harmonisch; ja harmonisch und zart und wohlwollend. Kann man sagen, dass eine Schrift wohlwollend war? Ich geriet wohl allmählich auch ins Spintisieren. Jedenfalls, wenn ihr blöder Ausdruck „Sanftmut“ auf irgendwas in der Welt passte, dann auf ihre Schrift. Ich schüttelte wieder den Kopf über mich selber, winkte dem Ober und bestellte einen Sherry. Er brachte ihn wortlos, aber ich wusste, dass er geschaut und gesehen hatte, dass ich noch keine Antwort verfasst hatte.
Ich ersparte mir den Blick hinüber zu ihr; vielleicht wollte SIE mich ungestört beobachten. Das musste sie ohnehin schon gemacht haben, woher hatte sie sonst ihren „Eindruck“ von mir? Ich griff nach meinem Schreiber. Sanftmut? Ich schrieb: „Wer von uns Beiden hat mehr Mut und wer wohl mehr Sanftmut?“ Na ja, umwerfend war das nicht, aber vielleicht konnte ich mich noch steigern. Meine Stärke liegt im Dialog, da kann ich ziemlich witzig werden, manchmal sogar geistreich. Beim Zettelschreiben war ich offenbar schwach.
Ich deponierte den Zettel an den Tischrand, dem Briefkasten sozusagen, und schon hatte ihn der Ober im Vorbeigehen geschnappt, so beiläufig, als hätte er ein paar Brösel vom Tisch weggewischt und trug ihn hinüber. Der Mann war ein Phänomen, noch von der alten Schule. Der kam nicht dreimal zum Tisch zurück, um übellaunig zu fragen, was man bestellt habe, um dann doch Tee statt Kaffee zu bringen. Da musste ein Gast nur einatmen und nicht erst endlos rufen oder mit den Händen fuchteln, schon war er zur Stelle und nahm die Bestellung an.
Ungeniert schaute ich hinüber. War das ein Lächeln, das über ihr Gesicht huschte? Wenn es eins war, dann doch nur ein winzig kleines. Sie musste offenbar nicht lang grübeln, bis ihr eine Antwort einfiel. Und schon hatte der Ober ihren Zettel, es war wieder ein neuer, auf meinen Tisch gezaubert. Mir war heiß, vom Sherry, den ich viel zu schnell hinuntergekippt hatte und von dieser seltsamen Zettelkommunikation. Ich zeigte dem Ober das leere Glas und er brachte sofort ein volles. Das würde ein teuerer Caféhausnachmittag werden, vom riesigen Trinkgeld, das ich ihm schuldig war, gar nicht zu reden.
Aufgeregt wie ein Backfisch, der seinen ersten Liebesbrief aufreißt, faltete ich das Zettelchen auseinander. Es war diesmal schier endlos gefaltet. Nichts? Nichts! Als gäbe es bei einem Blatt Papier nicht nur die Vorder- und die Rückseite, drehte ich es immer wieder um; es enthielt kein einziges Wort. Wütend wackelte ich mit dem blöden Fetzen Papier in ihre Richtung; natürlich schaute sie weg. Es war der strenge Blick des Obers, der mich abhielt, aufzuspringen, den leeren Zettel auf ihren Tisch zu klatschen und sie anzufauchen: „Du glaubst wohl, du kannst mich verarschen?!“

Warum nahm ich das Ganze so ernst? Es war doch ein Spielchen, dessen Spielregeln sie allerdings immer wieder änderte. Allmählich erwachte mein Ehrgeiz. Mit meiner allerschönsten Sonntagsschrift malte ich aufs elfenbeinmatte Papier: „Leere Versprechungen - aus Armut oder aus Geiz?“ Verdammt, das war gut, ich hoffte, dass sie da noch mithalten konnte. Diesmal war ihr Schmunzeln unübersehbar. Ich hatte fast den Eindruck, dass sie einen Augenblick lang mit der Versuchung kämpfte, zu mir herüber zu linsen. Ihre Antwort lautete: „Oh, ich habe gute Ersparnisse, doch welcher Bank kann ich trauen?“
Na also, jetzt kam sie doch endlich zur Sache. Sie WOLLTE Kontakt, klar. Warum sie eine so verschrobene Art gewählt hatte, das würde sie mir sicher erzählen. Eigentlich recht originell. Dahinter versteckte sich ein interessanter Charakter. Ich drehte ihren Zettel um und schrieb ohne lange zu grübeln: „Ich heiße Jacob, bin auf der Durchreise und finde Sie richtig sympathisch. Bei mir sind Ihre „Ersparnisse“ in den besten Händen.“
Diesmal brachte ich das Brieflein, auf dem Weg zur Toilette. selbst zu ihrem Platz, (Sie sah auch diesmal nicht hoch).

Im Spiegel sah ich: mein Gesicht glühte. Der Sherry? Die Aufregung? Sicherlich Beides. Wie sie wohl hieß? Ich schüttete mir mit den Händen kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete mich ab und ging siegessicher ins Café zurück. Ihr Platz war leer, auch schon abgeräumt. Auch mein Tisch war leer, nur die Rechnung lag drauf. Der Ober öffnete seine große Geldbörse und erklärte, sachlich, halblaut und professionell desinteressiert wie immer: „Ein latte macchiato, 3 Sherry. Die Dame hatte Kaffee und Kuchen.“

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