Samstag, 19. Dezember 2009

zunge

Höchstens auf Geschäftsreisen, was selten geschah, nahm er seine Frau nicht mit. Sonst war sie immer dabei, allerdings gingen sie kaum aus und Gäste kamen höchst selten zu ihnen in die Wohnung. Als Ehemann war er eher klebrig; huschte seine Frau auf ein Schwätzchen zu den Nachbarn hinüber, kam er bald nach und begrüßte in einem lang gezogenen Verkäufersingsang die Nachbarn. Nur an Silvester war im ganzen Haus ein munteres Hin und Her, die Wohnungstüren blieben nach Mitternacht offen, wenn alle schlotternd vor Kälte vom Feuerwerk auf der Straße ins Haus zurück quollen, und jeder besuchte dann jeden auf einen Anstoßsekt. Da waren er und seine Frau auch dabei.

Bei so einem Neujahrsnachtrundgang gelangte er in den zweiten Stock; es gab die üblichen Umarmungen, die guten Wünsche, zuckerklebrige Pfannkuchen und eben Sekt. Hier sogar Champagner. Er stieß mit allen möglichen Leuten an, auch mit einer unbekannten Frau mittleren Alters, die ihm niemand vorgestellt hatte, oder vielleicht doch? Er konnte sich jedenfalls nicht an ihren Namen erinnern. Sie war freundlich, aber nicht verbindlich, offenbar keineswegs angesteckt von der zu diesem Termin grassierenden Überschwänglichkeit und Verbrüderungswut. Er hatte mit ihr angestoßen, danach aber nicht aus seinem Glas getrunken, auch sie trank nicht. Er wollte sich gerade schon wieder abwenden, da beugte sich die Frau vor, und ohne ihren freundlich zurückhaltenden Gesichtsausdruck zu verändern, leckte sie ihm blitzschnell mit der Zunge über sein linkes Auge. Entsetzt zuckte er zurück, sein verblüffter Aufschrei ging aber in der lärmenden Musik, die aus dem Fernseher dröhnte, unter. Er starrte die Frau ungläubig an. Sie verzog keine Miene und schickte sich auch bereits an, sich anderen zuzuwenden und bald war sie in einem entfernteren Raum verschwunden.

Er wischte sich mit der Hand über sein Auge, es war feucht. Erst als die Hausherrin auf ihn zutrat, ihm zuprostete, ließ er sich - zum Schein - von ihrer angeschwipsten Laune anstecken und trank sein Glas mit einem Zug aus. Dann machte er sich, immer noch wie betäubt, auf die Suche, konnte die Frau aber in der ganzen Wohnung nicht mehr auffinden.

Seine Ehefrau, schon betrunkener als er, hatte bereits überall nach ihm gefahndet. Als sie ihn endlich entdeckte, wollte sie unbedingt mit ihm tanzen und war sehr unzufrieden mit seiner steifen Geistesabwesenheit. Als sie in ihn drang und wissen wollte, was er habe, schützte er Kopfschmerzen vor und machte sich los. Aufgeregt durchkämmte er nochmals alle Zimmer der Wohnung, wieder vergebens.
Auch bei einem raschen Streifzug durch die anderen Wohnungen des Hauses fand er die Frau nicht. Zurückgekehrt in den zweiten Stock, wo er die seltsame Begegnung gehabt hatte, fragte er vorsichtig die Gastgeberin nach ihr. Sie aber kannte sie nicht und wusste auch nicht, wer sie mitgebracht haben könnte.

In den nächsten Tagen gab er sich Mühe, wieder normal zu wirken, obwohl er sich keineswegs so fühlte. Er fasste sich so oft ans linke Auge, bis ihn immer mehr Kollegen fragten, ob er eine Entzündung habe. War es zuerst Verblüffung, nein heftiger Schreck gewesen, seltsamerweise keinerlei Ekel vor der fremden, feuchten Zunge an seinem Auge, so verwuchs sich dieses Gefühl allmählich zu einer Art Ziehen. Nicht so sehr körperlich, in der Augengegend; es war vielmehr ein innerliches Ziehen, eine saugende Unruhe. Als habe er in seinem Leben etwas falsch gemacht.

Auch nach einer Woche war dieses Gefühl nicht schwächer geworden und er machte sich allmählich Sorgen, dass man ihm etwas anmerken könne. Er hatte sich in dieser Woche angewöhnt, vielmehr nicht mehr abgewöhnt, öfter am Tag vor den Spiegel zu treten, sein belecktes Auge zu betasten und dann mit der Hand, wie um noch mal den Speichel wegzuwischen, darüber zufahren.

Als er sich eines Abends im Bad zum Spiegel vorbeugte, er war bereits zum Schlafengehen entkleidet und deshalb barfuss, kam ein erneut ein schreckliches Gefühl über ihn: Er meinte plötzlich mit dem Spielbein auf etwas Weiches, Nachgiebiges zu treten. Er sah zu Boden: die üblichen rötlichen Marmorfliessen. Doch das, worauf er trat fühlte sich eindeutig wie eine üppige weibliche Brust an. Noch nie in seinem Leben war er auf eine Frau getreten, geschweige denn auf ihre Brust. Als wäre er in Hundekot geraten, hob er langsam den Fuß und setzte ihn ebenso langsam, prüfend, einen kleinen Schritt daneben wieder auf. Um ihn sofort wieder hoch zu reißen. Auch an dieser Stelle drückte sein Fuß unverkennbar auf eine Brust. Ja er spürte unter der Sohle sogar die verhärtete Brustwarze, die sich unter dem Gewicht seines Fußes, seines Körpers zur Seite bog. Er war im Liebesleben eher zart, ja furchtsam und hatte noch nie einer Frau wehgetan, schon gar nicht absichtlich. So fühlte er in diesem Augenblick weniger Mitleid mit sich als mit jenem unsichtbaren, aber doch so deutlich spürbaren Frauenleib unter seinen nackten Sohlen.
Unter dem Gelächter seiner Frau, die eben am Bad vorbeikam, hopste er auf einem Bein aus dem Bad hinaus in den Korridor. Sie ging prustend weiter in die Küche, um sich einen Tee aufzugießen, und lachte dort noch immer über seinen vermeintlichen Scherz. Er vergewisserte sich, dass seine Frau ihn aus der Küche nicht sehen konnte und drehte sich dann vorsichtig um, tupfte probeweise mit einem Fuß wieder ins Bad hinein, diesmal an eine andere Stelle des Marmorfußbodens. Es gab keinen Zweifel, auch hier drückte sein Fuß auf eine feste, rundliche, freilich unsichtbare Brust. Sie musste etwa so groß sein wie seine beiden Fäuste zusammen. Die Nacht brachte er bis zum Morgengrauen schlaflos zu.

Die nächste Stufe der Verstörung setzte damit ein, dass er beim Aufziehen seiner Geldbörse ein deutliches Luststöhnen hörte. Aus dem Mund einer Frau. Er stand an der Kasse eines Supermarkts und versuchte rasch das Geräusch durch ein nachgeschobenes Räuspern zu übertönen. Verlegen blickte er sich um: niemand schien etwas gehört zu haben, aber auch niemand hatte dieses Geräusch zum Spaß - oder ihm zum Spott? - erzeugt. Als er probeweise den Reißverschluss wieder zuzog, wiederholte sich das Stöhnen. Offenbar vernahm es außer ihm niemand. Er wusste nicht, ob ihn das tröstete oder noch unglücklicher machte.

Wenden wir uns ohne Umschweife der nachfolgenden Plage zu, die ihn im Büro ereilte. Während einer Besprechung hatte er beide Handflächen auf die glatte Tischplatte gelegt und klopfte wiederholt, ohne das missbilligende Stirnrunzeln seiner Kollegen zur Kenntnis zu nehmen, mit den Fingern auf den Tisch. Als er aber in steigender Geistesabwesenheit mit dem Mittelfinger in das Glas der Tischplatte zu bohren versuchte, riss er plötzlich mit einem Schrei die Hand hoch und sprang auf. Seine Kollegen erschraken erst mit ihm mit, lachten dann kopfschüttelnd und gaben alberne Kommentare ab. Sie wären zweifelsohne noch drastischer ausgefallen, hätten sie gewusst, was seinen Schreck ausgelöst hatte: deutlich, ja unzweifelhaft hatte er gespürt, wie sein bohrender Mittelfinger ins glitschig-verschlingende Frauenloch einsank.

Er ließ sein Auto in der Firma und fuhr, sich aus der Sitzung entschuldigend, mit der U-Bahn nachhause. Als er zufällig seinen dumpfen Blick hob, sah er genau gegenüber die Frau aus der Silvesternacht sitzen. Und wieder hatte sie jenen teilnahmslos-freundlichen Blick, der es ihm unmöglich machte, sie anzusprechen.

(aus: Uferheft Nr.6)

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