Donnerstag, 24. Dezember 2009

Kniefall

Der Läufer im Schlosspark stolpert, rudert mit den Armen, knickt dann aber doch ein und landet auf seinen Knien. Peinlich berührt schaut er sich um, niemand hat seinen Sturz bemerkt. Er will sich wieder aufrichten, da spürt er, dass seine beiden Beine von den Knien abwärts sich von seinem restlichen Körper gelöst haben. Wie zwei Stehaufmännchen, als wäre ein Gewicht in den Schuhen, wackeln sie sich in aufrechte Position und setzen dann ihren Lauf fort; joggen neben ihm her. Er, der nun viel kleiner ist, stakert wie eine Puppe, breitbeinig, als hätt` er die Hosen voll. Seltsamerweise bellen die Hunde ihn an, nicht seine abgetrennten Füße.

Anfangs hofft er, dass sie einlenken. Er wird sonst nicht mehr an den Briefkasten hochreichen. Stelzenbeinig balancierend, ohne die Plattform der Füße, steht es sich erbärmlich. Auch hat er Angst, wenn er die Stummelenden seiner Knie zu sehr abnutzt, würden sie im Fall einer Wiedervereinigung nicht mehr zu der unteren Hälfte der Beine passen. Wenn die Nahtstellen zerdrückt sind, gar eitern. Er bemüht sich darum, auf dem Rasen zu laufen, den Kies zu vermeiden.

Er kann von oben in die Knorpelöffnung der beiden Unterkniehälften schauen, der Anblick ekelt ihn. An der kleinen Brücke geschieht das Schreckliche: das Fußpaar teilt sich. Einer läuft über die Brücke und dann den kleinen Bach entlang weiter, der andere bleibt diesseits. Dem schließt er sich an.

Er war von normaler Größe gewesen, nun würden alle auf ihn herabschauen. Nein, er musste jetzt zu allen hinaufschauen. Wie ein Kind, ein Liliputaner. Für einen Liliputaner bin ich nicht witzig genug, dachte er beschämt. Seine Frau würde sich beim Spaziergang nicht mehr von ihm um die Hüfte fassen lassen, sie würde ihn, da sie stets schneller ging als er, was er mit dem Hüftgriff bisher einigermaßen steuern konnte, wie ein kleines Kind an der Hand hinter sich herzerren. Der Gedanke an ihre großfingrige, immer raue Hand tröstete ihn für einen Augenblick. Aber sie würde sich nicht daran gewöhnen können, bei ihren langen Monologen hin und wieder zu ihm hinabzublicken. Sie würde über seinen Kopf hinwegreden.

Schönheitskorrekturen

Eine Frau und ein Mann treffen sich auf der Straße. Erfreut bleiben sie stehen, um sich die Hände zu schütteln. Sie tun dies schier endlos, als wollten sie einander allen Staub aus den Ärmeln beuteln. Nicht genug damit, zupft die Frau dem Mann beiläufig ein Haar von der Schulter, unverzagt weiterschüttelnd. Er revanchiert sich, indem er ihr ein Herbstblatt aus der Frisur pflückt. Und drückt auch gleich noch ihre Brille, die vom Händeschütteln zur Nasenspitze gewandert war, mit seinem Mittelfinger auf die Nasenwurzel zurück. Ein bisschen zu energisch vielleicht korrigiert sie seine Krawatte in die Mitte, erst nach links, dann nach rechts reißend, diese Pendelbewegung mehrfach wiederholend in immer kleineren Radien. Kühn schiebt er nun zwei Finger am Hals in ihre Bluse, angelt den herab gerutschten Träger des Büstenhalters und hebt ihn wieder in die Rille auf die Schulter hinein. Inständig streicht er ihr das Haar aus dem Gesicht und als es wieder zurück quillt, löst er den mit rotem Samt umgebenen Gummi an ihrem Hinterkopf und zurrt die gesamte Frisur zu einem strafferen Pferdeschwanz. Sie öffnet mit einem scharfen Ruck seinen Ledergürtel, um ihn einige Löcher enger zu schnallen. Da wickelt er einen aus der Ärmelnaht ihrer Bluse heraushängenden Faden um den Zeigefinger, der Faden will aber auch dann nicht reißen, als er an ihm mit solcher Gewalt zieht, dass sie taumelt. Auch sie mag ihm nichts schuldig bleiben und reißt ihm, was erst beim wiederholten Versuch gelingt, die kleine Brusttasche vom Jackett. Auch ihm will es erst beim dritten Versuch glücken, mit seinem Kugelschreiber an ihrem Oberschenkel eine Laufmasche in die Strumpfhose zu ritzen. Ohne zu zögern drückt sie ihm nun mit ihrem silbern bemalten Fingernagel den eitrigen Pickel links neben seinem Nasenflügel aus. Er verschmiert ihr im Gegenzug mit dem Daumen den dunkelroten Lippenstift über ihren Mund hinaus. Wie von einer unerklärlichen inneren Symmetrie getrieben holen beide weit mit der Rechten aus, um sich mit Kraft ins Gesicht zu schlagen, doch beugen sie, von der nämlichen Gleichzeitigkeit, ja Harmonie geleitet, ihren Kopf zurück, so dass die Handflächen vor ihren Gesichtern zusammentreffen. Als klatschten sie sich selber Beifall. Und begeistert wenn nicht gar gerührt fallen sie sich in die Arme. Mann und Frau.

Jacobs kalter Fuß

Lange nahm er es als selbstverständlich, dass er abends so kalte Füße hatte. Es wunderte ihn nur, dass sie so schwer wurden, dh. eigentlich nur der rechte. Als er eines Abends, noch lange vor dem Schlafengehen, die Socken auszog, fasste sich sein rechter Fuß nicht nur eisig an, auch sonderbar glatt. Nicht nach der Seidenstoffglätte sehr kalter Haut, eher steinern. Doch dafür wieder nicht trocken genug. Und als er den rechten Fuß zwischen die vorher geriebenen Handflächen presste, um ihn zu wärmen, hatte er den Eindruck, als klebten seine Hände fest wie an einer Packung tief gefrorenem Spinat. Als er aber in die Socken fuhr wie in Handschuhe, um damit den kalten Fuß warm zu reiben, blieb auf seiner Socke ein hauchdünner Schnee zurück, fast wie Reif.

Ungläubig klopfte er mit dem Fuß aufs Parkett, es klang hart, wie Stein oder Gips. Als er dieses Klopfen wiederholte, mit stärkerem Schlag, splitterte eine winzige Ecke von der Ferse ab und als er sie aufhob, schmolz sie ihm zwischen den Fingern. Auf seinem Zeigefinger blieb kurz eine winzige, durchsichtige Pfütze zurück, sickerte dann herab auf die Handfläche, war aber nicht mehr genug, um das große M in den Linien seiner Handfläche zu füllen.

Was war zu tun? Den zu Eis gefrorenen Fuß behutsam auftauen? Oder ihn vielmehr, um Zeit zu gewinnen, zusammen mit Eiswürfeln in Tücher hüllen, außen herum eine Plastiktüte? Er erinnerte sich, daß er schon lange keine Eiswürfel mehr im Kühlschrank hatte; er trank keine Getränke, die nicht Zimmertemperatur hatten.
Er suchte ein Thermometer, mit dem er die Raumtemperatur im Schlafzimmer hätte messen können, fand aber nur eins für Fieber. Das fing erst bei 36 Grad an, zu messen. Das Schlafzimmer war zwar der einzige unbeheizte Raum in der Wohnung, aber kälter als dreizehn, fünfzehn Grad war es dort bestimmt nicht. Nur auf dem Balkon war es winterlich kalt, um den Gefrierpunkt herum. Es war elf Uhr abends, er konnte doch nicht draußen auf dem Balkon übernachten. Oder doch? Eingehüllt in alle verfügbaren Decken, nur den Fuß herausragen lassen. Doch zum Liegen war der Balkon zu schmal. Er hätte auf einem Stuhl sitzend die Nacht verbringen müssen.

Verzagt ging er im Zimmer auf und ab, blieb aber bald wieder stehen. Der gefrorene Fuß polterte auf dem Holzfußboden wie eine Prothese; er musste an Käpt‘n Achat aus Moby Dick denken.
Er ließ sich in den Sessel sinken, legte eine Decke über seine Beine und während er nachgrübelte, wozu er ein Monster geworden war, auf einen Schlag, bildete sich langsam und unhörbar eine Pfütze unter seinem rechten Fuß, an der sich die Wolldecke betrank.

Buchstabenflucht

Beim Lesen huschen ihm die Worte, die Sätze davon wie die Zweige des Sisyphus, weichen zurück wie das Wasser, nach dem der Unselige durstig tappt. Er versucht es mit behutsamem Umblättern, auch mit raschem; gleichsam als Überraschungsangriff. Oder wie geistesabwesend an der Ecke der Seite spielend, ehe er hurtig das Blatt wendet. Vergebens. Wie ihm zum Hohn zeigen sich die schwarzen Zeichen im ersten Augenblick, um dann sogleich wie Sand vom Papier herabzurieseln. Manchmal ist es ihm, als höre er sie auf den Boden aufschlagen, Reiskörnern nicht unähnlich. Dass er die einzelnen Buchstaben in ihrem Fallgeräusch unterscheiden könnte, ist übertrieben, obschon sie beim Aufprall nicht alle gleich klingen. Stellt er das Buch schräg auf die Tischplatte, kann er den Druckerstaub vom Tisch blasen.
Er reißt mit Unbehagen einzelne Seiten aus einem Buch, legt sie wie nachlässig in Ecken des Zimmers, sie bleiben leer. Erst wenn er sie zusammenknüllt, füllen sie sich wieder mit Worten. Doch nur solange, bis er die Seiten glättet. Eines Abends entdeckt er, dass sie im Spiegel sichtbar bleiben, nicht lang genug freilich, denn es braucht viel Zeit, die Spiegelschrift zu entziffern.

Anfangs verbirgt er sein Missgeschick vor anderen. Im Bett, neben seiner Frau, blättert er in Abständen um, wenn er glaubt, er müsste die Seite jetzt gelesen haben. Wenn sie fragt: „Was liest du?“ hält er ihr schweigend das Buch hin, sie wirft wohl einen Blick hinein, schüttelt bald lachend den Kopf und gibt ihm das aufgeschlagene Buch zurück: „Was du aber auch immer für ein komplizierte Zeugs liest“. Er versucht es anders: „Wie findest du die Schrift?“, fragt er freundlich. Sie lässt sich das Buch noch Mal reichen und erwidert dann ein wenig unsicher „Normal, oder was meinst du?“ „Kannst du die Schrift lesen?“ fragt er betont sachlich. „Mit der Brille geht es gut. Warum? Hast du Schwierigkeiten?“ „Na ja“ weicht er aus. „Vermutlich bist du müde, wir sollten lieber das Licht ausschalten.“

In den nächsten Tagen wird es nicht besser. Konnte er anfangs wenigstens noch die Titel der Bücher erhaschen, ehe sie wie Pfützen unterm Föhn in die Unsichtbarkeit verdunsteten, so war es ihm bald nur noch möglich, die Bücher nach ihrer Dicke und ihrem Format zu erkennen. Auch nach der Farbe des Einbands oder des Umschlagbilds. Freilich auch nur jene, die er sich zur Lektüre aufs Fensterbrett gelegt hatte. Die Bücher im Regal wandten ihm nun stumm ihren wortlosen Rücken zu.
Er wollte seiner Frau vorschlagen, sich wie früher einander vorzulesen, verwarf aber den Gedanken sofort, weil er ja auch bald an der Reihe gewesen wäre. Dann hätte er höchsten improvisieren können, einen Text aus dem Stegreif erfinden...
Mit dem mechanischen Umblättern der für ihn nun leeren Seiten verbrachte er die folgenden Abende ohne Aufmerksamkeit zu erwecken. Als sie ihn eines Abend kopfschüttelnd einen Brief von ihrer Schwester hinhielt, sagte er mürrisch, nachdem er einige Zeit vergeblich auf das Papier gestarrt hatte - auch die Hand geschriebenen Buchstaben löschten sich vor seinen Augen aus - „Die Klaue kann ich auch nicht lesen.“

Um vor seinen Freunden, die ihn als emsigen Leser kannte, nicht plötzlich dumm dazustehen, informierte er sich nun intensiv aus Radio- und Fernsehsendungen über neue Bücher, telefonierte auch öfter als zuvor mit seiner Schwester und fragte sie dabei über ihre Lektüre aus, ja bat sie, für ihn Buchbesprechungen aus der lokalen Zeitung vorzulesen. Sie tat es ohne Anteilnahme für die Bücher, aber verführt vom ungewohnten Interesse ihres Bruders für sie und aus Hoffnungen
auf weitere Telefonate, mit denen er früher sehr gegeizt hatte.

Wie sollte es weitergehen? Das Lesen war ihm seit jeher unentbehrlich und er fühlte sich nun täglich ärmer, ja beraubt. Nur was er selber schrieb, verharrte auf dem Papier. So begann er die nun nutzlos gewordenen Bücher, Band für Band als Tagebücher zu nutzen. Vor seiner Frau verbarg er dies, als sie nach einem zufälligen Blick in solch ein von ihm neu beschriebenes Buch ausrief: “Oh Gott, was machst du denn hier? Ist das etwa moderne Kunst?“
Wenn er nach einiger Zeit eines der Bücher, das er mit seinem Füller wie ein Notizbuch neu beschrieben hatte, durchblätterte, kam es ihm vor, als schlüge der alte, gedruckte Text wieder durch und lasse seinen eigenen ertrinken. Für kurze Zeit bot sich dann der Originaltext seinen lesenden Augen dar,- in seiner Handschrift, die zusehends von den Druckbuchstaben überwuchert wurden. Um dann wieder zu verbleichen. Da wurde er sonderlich und kehrte von endlosen Spaziergängen immer später nachhause.

zwergmann

Eine rüstige Lebefrau nahm sich ein Männchen zum Gatten. Wegen seiner sanften Augen und weil er so abendrot wurde, wenn ihm jemand ins Gesicht hineinsah. Wie sie ihn handzahm machte? Durch scharfe Worte. Auch durch kleine, herzerwärmende Spiele: sie lässt ihn übers Stöckchen ins Beilager springen; ab und an ein Telefonbuch zerreißen; wie ein Löwe hineinbrüllen in ihren gespreizte Leib. An Tagen, da sie sich etwas beweisen muss, versucht sie, schon am Morgen sein mürrisches Schweigen zu brechen (bislang nur selten geglückt). Zur Zeit studiert sie mit ihm an einem Schweiß treibend schwierigen Trick: dass er sich auf der Straße von Fremden nach der Uhrzeit befragen lässt.

Natürlich strömen die Freundinnen in Scharen herbei. Darf ich auch mal anfassen, fragt die Dreisteste und alle lachen sich heiser. Wie Konfekt nimmt die Lebefrau neidische Komplimente entgegen. Mit demselben Wonnegruseln lässt sie sich vielfach bedauern. Sie erfragt auch Rat, um ihn scharfsinnig abzulehnen. Nur an nebligen Vorherbsttagen wird sie kleinlaut; da möchte sie ihr Männchen irgendwo abgeben oder einfach vergessen wie einen klemmenden Schirm.

Suchanzeige

Mir ist meine Frau entlaufen. Nein, so kann man wirklich nicht sagen. Das klingt, als wäre sie ein Hase. Verdammich, wie komme ich auf Hase? Weil ich sie in der Nachmittagsdämmerung der grünen Vorhänge immer von hinten - ich darf hier doch von Mann zu Mann? Jetzt noch mal: mir ist meine Frau weggelaufen, so muss es heißen. Obwohl auch das noch nicht stimmt, jedenfalls nicht durch und durch. Ich will nicht als Pedant dastehen, aber sie ist nun mal nicht gelaufen. Keine Spur von dramatisch, von wegen Türenschmeissen, Fingerstochern, Heulergüssen, Geschenke-zerreissen. Sie ist verdunstet; hat sich ausgeblendet; ist vergilbt wie eine schlecht fixierte Fotografie.

Wahrscheinlich war nicht nur ihr Gesicht, wenn ich mit ihr in der grünen Nachmittagsdämmerung Häschen spielte, eine Leibeslänge entfernt von meinem rammelnden Becken. Auch ihr Herz hatte bereits einen Vorsprung, den ich im Leben nie eingeholt hätte.

Also gar nicht entlaufen, eher: losgerissen. Das klingt zu sehr nach Ruck und nach Leine. Ist sie mir etwa entflutscht? Warum erinnere ich mich zuerst an die Ärmel ihres Pullovers? Auf schwarzem Grund eine goldene Mondsichel; mit Kulleraugen und wulstigen Lippen. Und vor diesem Mondgesicht zwei rote, drei silberne Sterne. Auch an ihre dickglasige Brille ohne Rand erinnere ich mich, die sie nicht ablegte, obwohl ich weiß, dass sie beim sex die Augen geschlossen hielt. Ihre langen, gelbbraunen Haare, künstlich gekräuselt, warf ich ihr über die Schultern hoch, damit ich den zarten Flaum auf ihrem hügeligen Hintern sehen konnte.

Ich zittere bei dem Gedanken, dass ich bei der Polizei, wenn ich die Vermisstenmeldung abgebe, mit einem Beamten ihr Phantomportrait am Computer entwickeln muss. Ihr Gesicht verwabert vor meinen Augen wie im Wasserspiegel. Nur die Brillengläser glotzen mich an. Blind und stumm.

Hätte ich ihr beim Hasensex mit der flachen Hand ein Brandzeichen auf die Arschbacken klatschen sollen, an dem ich sie zweifelsfrei wieder erkennen könnte? Identifizieren, reklamieren.

Meine Frau ist mir entgangen. Ich habe mich von ihr ernährt, statt ihr den Hunger nach mir einzupflanzen, das erkenne ich jetzt als meinen Fehler. Waren wir ein Leib, habe ich sie eingeatmet, sie hat mich ausgeatmet. Ich habe sie verzehrt, sie mich erbrochen.

Flaschenpost


Der Ober tritt an meinen Tisch, legt mir einen zusammengefalteten Zettel neben das latte macchiato Glas und sagt mit professioneller Glätte: „Bitte sehr. Von der Dame am Fenster.“
Ich schaue verwundert auf: es gibt drei Fenster, an zweien sitzt jeweils eine Frau. Eine hebt ganz wenig und ernst den Zeigefinger, verzieht aber keine Miene dabei. Neugierig falte ich den Zettel auseinander. Ein schweres Büttenpapier. Innen ist mit lila Tinte und einer zierlichen Schrift geschrieben: „Mein Herr, ich bitte Sie höflich darauf zu verzichten, mich anzustarren.“

Ich bin empört und winke den Ober herbei. „Was soll das?! Ich lese friedlich meine Zeitung, diese Frau dort hatte ich bis jetzt noch nicht einmal bemerkt. Wie kommt die dazu –„
Er hebt nur die Augenbrauen einige Millimeter und sagt ungerührt: „Sie können ihr ja zurück schreiben.“ „Das ist doch albern“, maule ich, hole dann aber doch meinen fineliner heraus – grün – und schreibe auf die Rückseite ihres Zettels: „Ich starre keine fremden Frauen an, selbst dann nicht, wenn sie verschroben sind.“ Nein, das war flegelhaft, ich durfte mich nicht provozieren lassen von ihr. Ich strich den Nebensatz durch und überlegte, ob mir nicht was Geistreicheres einfiele, doch da hatte der Ober den Zettel schon geschnappt und brachte ihn zu der Frau am Fenster zurück. Erst wollte ich protestieren, den übereifrigen Kellner zurückpfeifen. Aber es war eh schon zu spät und ich wollte hier im Café kein Spektakel machen. Unschlüssig schaute ich hinüber zu ihr. Sie nahm die Nachricht, las; wieder verzog sie keine Miene, schaute nicht auf, schaute nicht herüber zu mir. Sie legte den Zettel unter ihre Tasse, riss einen neuen aus ihrem Heft. Das war offenbar gar kein Tagebuch, sondern ein Block mit Zetteln. Sie beschrieb das Blatt, ohne sich zu besinnen und schob es an den Tischrand. Der Ober, als sei er mit dem Spielchen bestens vertraut, nahm ihn und brachte auch diese Botschaft an meinen Tisch.

Amüsiert winkte ich hinüber zu ihr, aber sie blickte nicht auf. „Dumme Gans“, murmelte ich, aber dann wurde mir bewusst, dass ich sie ja nun tatsächlich anstarrte. Kopfschüttelnd widmete ich mich wieder dem Zettel vor mir.
„Mein Herr, Sie erschrecken mich. Sie machten auf mich einen Eindruck von größerer Sanftmut.“
Du lieber Gott, ganz schön überkandidelt! Ich schaute wieder hinüber: sie war keine dreißig, eher sportlich gekleidet, genau genommen recht sexy. Warum schrieb sie so seltsam? Warum schrieb sie überhaupt, statt einfach mal freundlich zu mir herüberzulächeln. Sollte ich einfach rüber gehen? Mich vorstellen, fragen, ob ich mich zu ihr setzen dürfe?
Nein, das wäre doch zu aufdringlich. Vielleicht hatte ich vorhin bei einem Rundblick durchs Lokal meine Augen zu lange auf ihr verweilen lassen. Sie sah wirklich sehr attraktiv aus. Meine Cafehausgemütlichkeit war jedenfalls weg. Mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Fühlte sie sich nun von mir wirklich belästigt oder wollte sie auf diese verdrehte Art mit mir anbandeln? Eine Mimose oder eine Zicke? Ach was, Schluss mit dem Kasperltheater, ich geh jetzt einfach hinüber zu ihr. Ich rückte meinen Stuhl zurück, da drückte mich der Ober sanft auf den Sessel zurück und raunte mir zu: „Sie haben die letzte Botschaft noch nicht beantwortet.“

Aha, ein abgekartetes Spiel, der Ober steckte unter einer Decke mit ihr. Vermutlich machte sie das Spielchen nicht das erste Mal, war Stammgast in diesem Café.
„Wie heißt sie denn?“ frage ich den Ober und deutete feixend mit dem Daumen hinüber. „Bedaure“, antwortete der Ober professionell. „Die Dame ist zum ersten Mal in unserem Café.“
Das hätte ich mir denken können, die zwei hielten natürlich zusammen. „Verzeihung“, sagte der Ober und ging zu einem anderen Tisch, wo jemand etwas bestellen wollte.

Na gut, dachte ich, machen wir weiter. Ihre Schrift gefiel mir, sie war nicht so fahrig und zuckend wie meine. Sie war irgendwie – ja was eigentlich? Harmonisch; ja harmonisch und zart und wohlwollend. Kann man sagen, dass eine Schrift wohlwollend war? Ich geriet wohl allmählich auch ins Spintisieren. Jedenfalls, wenn ihr blöder Ausdruck „Sanftmut“ auf irgendwas in der Welt passte, dann auf ihre Schrift. Ich schüttelte wieder den Kopf über mich selber, winkte dem Ober und bestellte einen Sherry. Er brachte ihn wortlos, aber ich wusste, dass er geschaut und gesehen hatte, dass ich noch keine Antwort verfasst hatte.
Ich ersparte mir den Blick hinüber zu ihr; vielleicht wollte SIE mich ungestört beobachten. Das musste sie ohnehin schon gemacht haben, woher hatte sie sonst ihren „Eindruck“ von mir? Ich griff nach meinem Schreiber. Sanftmut? Ich schrieb: „Wer von uns Beiden hat mehr Mut und wer wohl mehr Sanftmut?“ Na ja, umwerfend war das nicht, aber vielleicht konnte ich mich noch steigern. Meine Stärke liegt im Dialog, da kann ich ziemlich witzig werden, manchmal sogar geistreich. Beim Zettelschreiben war ich offenbar schwach.
Ich deponierte den Zettel an den Tischrand, dem Briefkasten sozusagen, und schon hatte ihn der Ober im Vorbeigehen geschnappt, so beiläufig, als hätte er ein paar Brösel vom Tisch weggewischt und trug ihn hinüber. Der Mann war ein Phänomen, noch von der alten Schule. Der kam nicht dreimal zum Tisch zurück, um übellaunig zu fragen, was man bestellt habe, um dann doch Tee statt Kaffee zu bringen. Da musste ein Gast nur einatmen und nicht erst endlos rufen oder mit den Händen fuchteln, schon war er zur Stelle und nahm die Bestellung an.
Ungeniert schaute ich hinüber. War das ein Lächeln, das über ihr Gesicht huschte? Wenn es eins war, dann doch nur ein winzig kleines. Sie musste offenbar nicht lang grübeln, bis ihr eine Antwort einfiel. Und schon hatte der Ober ihren Zettel, es war wieder ein neuer, auf meinen Tisch gezaubert. Mir war heiß, vom Sherry, den ich viel zu schnell hinuntergekippt hatte und von dieser seltsamen Zettelkommunikation. Ich zeigte dem Ober das leere Glas und er brachte sofort ein volles. Das würde ein teuerer Caféhausnachmittag werden, vom riesigen Trinkgeld, das ich ihm schuldig war, gar nicht zu reden.
Aufgeregt wie ein Backfisch, der seinen ersten Liebesbrief aufreißt, faltete ich das Zettelchen auseinander. Es war diesmal schier endlos gefaltet. Nichts? Nichts! Als gäbe es bei einem Blatt Papier nicht nur die Vorder- und die Rückseite, drehte ich es immer wieder um; es enthielt kein einziges Wort. Wütend wackelte ich mit dem blöden Fetzen Papier in ihre Richtung; natürlich schaute sie weg. Es war der strenge Blick des Obers, der mich abhielt, aufzuspringen, den leeren Zettel auf ihren Tisch zu klatschen und sie anzufauchen: „Du glaubst wohl, du kannst mich verarschen?!“

Warum nahm ich das Ganze so ernst? Es war doch ein Spielchen, dessen Spielregeln sie allerdings immer wieder änderte. Allmählich erwachte mein Ehrgeiz. Mit meiner allerschönsten Sonntagsschrift malte ich aufs elfenbeinmatte Papier: „Leere Versprechungen - aus Armut oder aus Geiz?“ Verdammt, das war gut, ich hoffte, dass sie da noch mithalten konnte. Diesmal war ihr Schmunzeln unübersehbar. Ich hatte fast den Eindruck, dass sie einen Augenblick lang mit der Versuchung kämpfte, zu mir herüber zu linsen. Ihre Antwort lautete: „Oh, ich habe gute Ersparnisse, doch welcher Bank kann ich trauen?“
Na also, jetzt kam sie doch endlich zur Sache. Sie WOLLTE Kontakt, klar. Warum sie eine so verschrobene Art gewählt hatte, das würde sie mir sicher erzählen. Eigentlich recht originell. Dahinter versteckte sich ein interessanter Charakter. Ich drehte ihren Zettel um und schrieb ohne lange zu grübeln: „Ich heiße Jacob, bin auf der Durchreise und finde Sie richtig sympathisch. Bei mir sind Ihre „Ersparnisse“ in den besten Händen.“
Diesmal brachte ich das Brieflein, auf dem Weg zur Toilette. selbst zu ihrem Platz, (Sie sah auch diesmal nicht hoch).

Im Spiegel sah ich: mein Gesicht glühte. Der Sherry? Die Aufregung? Sicherlich Beides. Wie sie wohl hieß? Ich schüttete mir mit den Händen kaltes Wasser ins Gesicht, trocknete mich ab und ging siegessicher ins Café zurück. Ihr Platz war leer, auch schon abgeräumt. Auch mein Tisch war leer, nur die Rechnung lag drauf. Der Ober öffnete seine große Geldbörse und erklärte, sachlich, halblaut und professionell desinteressiert wie immer: „Ein latte macchiato, 3 Sherry. Die Dame hatte Kaffee und Kuchen.“

Mittwoch, 23. Dezember 2009

Kassiber aus dem Paradies? Mutmaßungen zu Hubert Hubers Holzkunst


Wer möchte leben
Ohne den Trost der Bäume
Günter Eich

Dass sich einer Holzbildhauer nennt und dann so wenig auf sein Material einwirkt wie Hubert Huber, hat schon manchen Besucher seiner Ausstellung irritiert. Ist das schon Kunst?
Anders als seine Kollegen zeigt Huber wenig Neigung, sein Holz mit Meissel oder Hammer zu maltraitieren. Er mag es nicht verwunden, erlässt es in Frieden. In Ruhe lässt er es freilich nicht. Er bringt es, auf erstaunlich behutsame Weise, zum Sprechen.
Warum dieser schier asketische Respekt vorm Material? Weil der Baum Leben ist? (Für Huber und seine Familie gilt das wortwörtlich.) Ich vermute einen anderen Grund. Huber zwengt dem Holz keine Bedeutung auf: etwa die einer menschlichen Figur oder eines Tierkörpers; nicht einmal die eines abstrakten Reliefs: für ihn hat der Baum bereits einen Text, freilich einen geheimen, den will er mit seiner Kunst sichtbar machen.
Der Baumstamm ist für Hubert Huber ein Brief, drum öffnet er ihn. Und weil, was darin steht, in seinen Augen so wichtig ist, macht er davon immer wieder Abschriften. Er druckt ihn ab.
Wenn Huber seinen Baumstamm aufgeschnitten hat und wir die Struktur des Holzes vor Augen haben, seine Maserung, die Jahresringe, die Farbe der jeweiligen Holzsorten, was sehen wir dann? Diese Schrift des Holzes - das die erste Wahrnehmung - ist schön, ein Trost fürs Auge. Sie fesselt unsere Aufmerksamkeit durch ihre Vielfalt, macht uns neugierig, zuletzt aber gibt sie uns Rätsel auf. Denn sie ist wohl Textur, nicht aber Text, den man so einfach ablesen könnte. Und doch wird man das Gefühl nicht los, es müsse ein Sinn dahinter stecken.
Eine verborgene Botschaft? Und wie beim Betrachten einer unbekannten Schrift, einer arabischen z. B. oder chinesischen, freut man sich an der Schönheit der Zeichen und ist doch unzufrieden, dass man sie nicht entziffern kann. Huberts Holzkunst versucht sich als Lesehilfe für diese geheimen Botschaften der Bäume.
Eine Botschaft der Bäume? Tatsächlich gibt es in der abendländischen Philosophie seit Jahrhunderten den Topos vom Buch der Natur, Ausdruck der Hoffnung, dass man in der Natur wie in einem Buch lesen könne. Und was steht in diesem Buch? Dass alles, was es gibt, die Handschrift eines gütigen Schöpfers trage, dass alles also einen Sinn hat.
Recht schön, recht gut. Natürlich hat die Sache einen Haken: das Buch der Natur ist in Hieroglyphen abgefasst, in Geheimschrift. Uns bleibt die Wahl zwischen zwei Bücher: das eine - gemeint ist die Bibel - spricht unsere Sprache, doch was da drin steht, müssen wir glauben. Das andre sehen wir mit eigenen Augen, der Text aber bleibt für immer verschlüsselt. Wie schwer dem Künstler Hubert Huber die Wahl zwischen den beiden Büchern gefallen ist, weiß ich nicht. Dass er sich in seinem Werk entschieden hat: für Anschaulichkeit, nicht für Gewissheit, kann man sehen.
Nun ist Huber kein Sammler, der sich am Objekt trouvé der Surrealisten freuen würde. Dem verwunschenen Stein, dem bizarren Stückchen Holz, der Alraune läuft er nicht hinterher. Wohl findet er: seine Textur im Holz, doch er erfindet immer noch etwas hinzu. Neben dem Öffnen des Baumes - der Künstler als Anatom? - ist es seine vorsichtige Einfärbung des Holzes, die er als Lesehilfe einsetzt. Der Künstler als Detektiv, der mit seinem Pulver die Fingerabdrücke der Schöpfung sichtbar macht? Naturforscher in jedem Fall, das heißt einer, der in der Natur nach Beweismaterial fahndet für die Hoffnung, dass das schöne Muster kein Zufall ist, ohne weitere Bedeutung, sondern ein Brief: rausgeschmuggelt aus dem verloren gegangenen Garten Edens. Deshalb ist es natürlich kein Zufall, wenn Huber seinen witzigen Akt ausgerechnet einem Apfelbaum entnimmt.
Listig stellt er in seinen Ausstellungen Original und Abdruck nebeneinander, als Sehschule, auch als augenfälliger Hinweis darauf, dass Kunst und Realität sich unterscheiden. Doch auch das genügt ihm noch nicht. Er greift in sein Material ein mit einer Form, die durchaus unnatürlich ist: dem Dreieck. Ratio, Konstruktion, Menschenwerk ist das nötige Gegenwicht zur Natur in Hubers Werk. Dass für unsere Kultur hinter dem Dreieck immer das Symbol für die christliche Dreifaltigkeit, das Auge Gottes durchschimmert, ist nicht von der Hand zu weisen und für Hubert sicher wieder kein Zufall. Freilich inszeniert er das Dreieck genau so wenig bedeutungsschwanger wie alles andere: Predigen passt nicht zu seinem Naturell. Es dient ihm meist als Formel in seinen witzigen Akten. Das Dreieck auf der Spitze stehend vertritt glaubwürdig Brüste und Schamdreieck, ragt die Spitze nach oben, erkennt jeder problemlos das männliche Prinzip (um mich jugendfrei auszudrücken)
In meinen Augen sind in Hubert Hubers Holz- und Druckkunst zwei Fäden zu einem verflochten, der nun einen guten Halt gibt: Metaphysik und irdischer Humor. Ob das überhaupt möglich ist? Wer Augen hat, zu sehen, der sieht es. Und wer’s noch nicht sieht, der kann es von Huber lernen.

"Burg" Burghausen 1994

Bilder von Hubert Huber: http://www.huberthuber.de/

Christine Höppners Bildgeschichte


Das lange Märchen von der Freundschaft

Man kann als Malerin seine Geschichte laut erzählen, rechthaberisch, nach dem Motto: hier red nur ich. Dass es auch ganz anders geht, zeigen die Bilder von Christine Höppner. Wie sie das macht, ist deutlich zu sehen, schwer zu beschreiben. Was so beredt ohne Worte auskommt, ist schwer in Worte zu übersetzen.

Ich nehme mir einige Begriffe zu leihen, die aus anderen Kunstbereichen stammen und versuche es zuerst mit einem Ausdruck aus der Musik: Harmonie. Ich beobachte in diesen Bildern eine durchgehende Harmonie: der Figuren, der Formen, der Farben, auch der Geschichten. Niemand und nichts besteht hier auf ein Solo; das Wort hat der Chor.
Nun bedeutet Harmonie dem Wortsinn nach zuerst nur: dass etwas zusammengefügt ist. Bei Frau Höppner kommt auf einem Bild in der Tat allerhand zusammen. Ein Panoptikum von Tieren, Menschen, Pflanzen und noch einiges mehr breitet sich da vor unseren Augen aus.

Durch den Verzicht auf Perspektive sind Schwerpunkte vermieden, nichts gängelt den Blick. Es gibt kein vorne, kein hinten, wohl aber strebt alles von unten nach oben, wies eben wächst in der Natur. Wie sich das schlängelt, hoch wehend, weich wogend, Unterwasserjägerlatein?

Dieses pure Nebeneinander meinen wir natürlich nicht, wenn wir von Harmonie reden: ein verzanktes Paar ist auch beisammen, passt sogar auf makabre Weise zusammen, weil Hass dem Gegenhass zahnradscharf antwortet. Können Sie sich Zank, Gehässigkeit, Konkurrenz, Besserwissen, Prahlerei, Großspurigkeit im Zusammenhang mit diesen Bildern vorstellen? Wie also entsteht die intensiv strömende Harmonie in diesen Kunstwerken?

Symphonie, Polyphonie, Mehrstimmigkeit also entsteht erst, wenn viele Stimmen zum Zug kommen, wenn keine dominiert, keine den kürzeren zieht. Denn zwei Gefahren fürchtet die Harmonie: Missklang und Langeweile. Wie also wird Harmonie in diesen Bildern hergestellt?
Ich versuche es nun mit Begriffen aus der Welt des Theaters: Fragen wir nach der Besetzung dieser Geschichten, nach dem Stil ihrer Inszenierung, dem Bühnenbild. Wir sind im Märchen, das zeigt schon der kürzeste Blick, - oder im Traum? Die Darsteller sind meist weiblich, wenn ich recht sehe, dazu gibt es reichlich Tiere, die aussehen, also ob sie sprechen könnten, jedenfalls verstehen sie alles, sie gehören dazu, sind Freunde.

Gehen wir näher heran: Woraus besteht der Wortschatz, das Bildvokabular? Köpfe, angedeutet, auch die von Tieren, wie Echos darauf, und überall pflanzliche Flächen, mit Farbe gefüllt. Ihre Formen sind durchweg naturhaft, nichts weist auf ein Lineal hin, noch weniger auf einen Zirkel. Nichts ist konstruiert, alles trägt das Kennzeichen von Handarbeit, ist Handschrift. Warum keine Geometrie, nichts Mechanisches, warum bleiben Technik und Großstadt ganz und gar unerwähnt? Sind wir zur Probe ins Paradiesgärtchen versetzt? Nach Utopia, der Vision eines besseren Lebens, wo der Tiger des Menschen Freund ist und auch der Mensch nicht länger dem Menschen ein Wolf?

Wie kommt nun das, was im Bühnenraum der farbigen Blätter inszeniert wird über die Rampe? Will es das überhaupt? Wenn ich vom Chor gesprochen habe: ist das hier nicht eher ein in sich selbst versponnener Chor? Eine sich selbst genügende Kommune? Ja und nein. Was fehlt schon, wenn die geliebten Freunde da sind?

Trotzdem: Was als Prinzip in den Bildern gültig ist gilt genau so nach außen: Der Zauber im Bild ist Angebot an den Betrachter, sich ebenfalls verzaubern zu lassen. Mitzuspielen, mitzuträumen, die angefangenen Fäden weiterspinnen, seine eigne Geschichte dazu zu phantasieren. Das was er sieht, mit dem, was er fühlt, zu ergänzen.

Santa Madonna, ist das nicht zuviel des Guten? Ist ja nicht das Leben, ist ja Kunst.

(zahlreiche Bilder der künstlerin: http://www.christine-hoeppner.de/galerie.htm)

Montag, 21. Dezember 2009

Hortensie


Wenn es schlimmer wird, nahm er sich vor, zieh ich mich nicht mehr aus. Es wurde schlimmer, rascher, als er gefürchtet hatte. Wenn es nur nicht über den Hals hinauf wächst, dachte er ängstlich. Immer öfter, auch tagsüber, entkleidete er sich, stellte sich nackt vor den großen Spiegel im Bad. In seinem Rücken hatte er einen kleineren Spiegel aus dem Korridor auf die Konsole gestellt. So konnte er sich, mit einigen Verrenkungen, auch von hinten betrachten.

Es hatte unter den Armen angefangen. Seine Behaarung war dort nicht besonders dicht, schon gar nicht kratzbürstig, Flaum konnte man es freilich auch nicht nennen. Normal eben, dachte er. Als sich seine Achselhaare eines Abends, vor zwei Tagen war es erst gewesen, buschiger, zugleich flaumiger als bisher anfühlten, hatte er sich nichts dabei gedacht. Er wusch sich jeden Morgen mit kaltem Wasser die Füße, das Geschlecht, das Gesicht und eben auch die Achselhöhlen. Ohne groß hinzuschauen, er hätte es auch im Dunklen machen können.

Erst als er in den Achselhöhlen an den waschenden Handflächen ein seltsames, übrigens angenehmes Gefühl spürte, hob er die Arme und starrte in den Spiegel. Der Flaum in seinen Achselhöhlen kam ihm bläulich vor. Irritiert holte er seine Brille und erschrak: Wo bislang seine dunklen Achselhaare gewachsen waren, wuchs nun, ja was denn? Es sah aus wie der Wuschelkopf einer Hortensie. Als er sich eine der kleinen bläulichen Blüten auszupfte, tat es weh wie bei einem richtigen Haar.
Und er wurde gewahr, dass auch sein Schamhaar sich zu verwandeln begonnen hatte. Es ließ sein Glied in der Blütenwolke klein und obszön erscheinen. Diesmal zupfte er sich kein Haar zur Probe aus.

Er ertappte sich, wie er bei den immer häufigeren Leibesvisitationen vor dem Spiegel mit zarter Hand die drei Blütenhügel liebkoste. Sie waren üppig und doch weich, prall und doch nachgiebig. Er tätschelte sie behutsam wie die zarten Brüste seiner Freundin.
Sie war zum Glück verreist und er wagte nicht an ihre Rückkunft zu denken. Sie bestand beim sex nicht nur auf völliger Nacktheit, es konnte ihr auch nicht hell genug im Schlafzimmer sein. Am liebsten schlief sie ohnehin mit ihm am hellen Nachmittag, wenn die Sonne grell durch die wallenden Vorhänge brach.

Und dann begann auch sein Kopfhaar sich zu verblumen. Er trug es sehr kurz. Durch die Verwandlung der Stoppel in sanftblaue Hortensienblüten sah es nicht länger aus als zuvor, aber wuscheliger. Und natürlich die Farbe war unübersehbar auffällig. Jetzt im Mai eine Mütze zu tragen, wie sollte er das erklären? Läuse? Allergie? Dann noch besser einen Verband, das sah nach Unfall aus.

Leider begannen nun auch seine üppigen, in der Mitte über der Nase zusammen gewachsenen Augenbrauen bläulich zu schimmern. Sie wurden blumenbauschig, ein schmales, sicheliges Hortensienfeld. Er erinnerte sich, dass seine Freundin sich zuweilen einige Augenbrauen mit einer Pinzette auszupfte, um die Architektur ihres Gesichts zu bereinigen. Er fand die Pinzette, versuchte es. Aber nicht nur der Schmerz ließ ihn das Werk gleich wieder abbrechen. Wo er eine Blüte ausrupfte, sprossen sogleich zwei neue nach, bildeten einen albernen Hubbel in der Linie seiner blühenden Brauen.

Unnötig zu sagen, dass in Kürze auch die schmale Linie von seinem Schamhaar aufwärts zum Nabel ein Blumenbeet wurde, und am Arsch, wie er mit Entsetzen sah, wucherten die Blumen bereits üppig. Dann kamen die Ohren dran, die Nasenlöcher und zuletzt, er hatte sich lange über diese Verzögerung gefreut, wenn auch verwundert, zuletzt blühte ihm sein Bart auf und ließ ihm nur noch drei tiefer liegende Blumenbeetlöcher übrig für Augen und Mund.

Eines Nachts, am nächsten Vormittag wollte seine Freundin zurückkommen, packte er die wenigen Habseligkeiten zusammen, die ihm unentbehrlich schienen, ließ sie am Ende aber doch stehen und schlich sich, ohne im Treppenhaus das Licht anzuschalten, aus dem Haus.
Hätte er noch in den Briefkasten geschaut, hätte er dort einen Brief seiner Freundin vorgefunden, worin sie ihm mitteilte, dass sie vorerst zu ihrer Mutter aufs Land gezogen sei, weil sich an ihrem Körper, den er so liebe, unaussprechliche Veränderungen eingestellt hätten.

Sonntag, 20. Dezember 2009

der schlüssel im teich


1.
Vom Apfelbau aus sehe ich über die Wiese, den Teich, den Zaun bis hinaus auf die Straße. Den Weg, der hereinleitet aufs Grundstück. Niemand kann kommen, den ich nicht sehe. Ich werde sie sehen, ehe sie mich sieht.

Unterm Apfelbaum steht ein blaugrün angestrichener Blechtisch, beruhigend künstlich die Farben. Sobald ich mich auf den Stuhl setze, sinkt er in den weichen Grasboden ein wie in Sumpf, steht schief, lässt sich nicht mehr verrücken. Er hat sich festgeschmatzt. Ich warte mit Unbehagen, dass das eine Beine sich so weit nach unten bohrt, dass ich abrutsche, umfalle.
Ich könnte die Schuhe ausziehen und auch die Socken, barfuss das Federn des Rasens verkosten, der anders als der beziehungslose Betonboden der Stadt jedem Schritt antwortet. Hindert mich meine Erinnerung an Schulausflüge in das Moor? Die Moorleichenschauermärchen. Bleibt bloß auf den Wegen! Wer anfängt zu sinken, kann sich nicht mehr retten.
Mit Entsetzen sehe ich in Dokumentarfilmen, wie die einheimischen Träger barfuss durch den Sumpf des Urwalds, durch die Knie hohen Lachen stapfen, nichts Zögerndes ist an ihrem Schritt, keine Spur von Grauen.

Habe ich noch etwas Verführerisches für sie? Mir kommt es vor, als sei der Altersabstand zwischen uns in den Jahren, da wir uns nicht mehr gesehen haben, gewachsen. Jetzt finden mich junge Frauen "süß", wie man Babys süß findet. Der süße alte Mann. Die Kränkung, damals schon, als ihre Schwester sich einfach nackt vor mir auszog, sich in meiner Gegenwart, munter plaudernd, wusch und dann neben mich ins Bett legte. Das nennt man dann wohl kameradschaftlich. Scham gibt es jetzt nicht mehr vor mir.
Mir war immer verwunderlich, dass Frauen, kaum war man mit ihnen intim, jede Scham einbüßten, sich ab nun offen zum Pinkeln hinsetzten, es fast als Kränkung ansahen, wenn man geniert aus der Toilette rausgehen wollte. Ich möchte nicht in Gegenwart einer Frau, gar einer Geliebten, pinkeln, geschweige denn kacken. Der Schreck, wenn in einer öffentlichen Toilette ein Zweiter hereinkommt. Jetzt bloß kein Geräusch!

2.
Warum habe ich mir den Schlüssel zum Haus nicht mehr besorgt? Im Ernstfall, hatte sie gesagt, weißt du ja, wo du ihn findest. Der Metallstuhl ist kantig und eiskalt, erst recht die Tischplatte. Die Unterarme zucken zurück, wie elektrisiert, wenn ich sie auflege, um zu schreiben. Auch das Jackett schützt mich nicht, die Handballen liegen nackt auf dem kalten Blech, als wäre meine Tarnung nicht lückenlos. Wie angenehm das Papier, wenn ich mit der flachen Hand darüber streiche. Es ist trockener als Frauenhaut, auch rauer. Stummer. Nein, Papier verschweigt nichts, es hat nichts zu sagen. Und die Welt von Erregung, Wohlgefühl, Trost, Fülle, wenn ich mit der Hand über ihre Haut wandere: erzählt mir das die Haut oder schreibe ich es mit meinen Fingerspitzen ein, nur den eigenen Text ablesend?
Ihr Desinteresse (ihr gespieltes?) an meiner Nähe, wenn ich sie streichle. Kein Antworten, kein behagliches sich Winden, wie man das Gesicht der Sonne zuwendet, kein katzenhaftes sich Anschmiegen. "Wenn du mich berührst, stört mich das nicht". Dass sie`s zulässt, ohne zu fauchen, ohne sich zu entwinden, macht die Sehnsucht nach Nähe allein zu meinem Problem. Ihr Körper ist verstummt, kein Dialog mehr. Verblieben ist mir Selbstbefriedigung an anderen Leibern.

3.
Ihre Haut war trocken, roch stets nach Feuchtigkeitscreme. Schlangenhauttrocken, ledrig, aber nicht hart, freilich auch nicht brüstesamtig. Unsinn, Brüste fassen sich nicht samtig an. Samt bremst ja, schluckt die Berührung. Seide? Oder Satin?
Beides liebe ich sehr: wenn ich warm bin und sie eiskalt, dann ist ihre Haut metallisch glatt und ich meine fast, mit meiner Wärme einzuschmelzen. Oder umgekehrt, wenn ich eisig bin. Dann möchte ich in ihrer weichen Wärme einsinken. Aber sie mault dann, bleibt meist geizig mit ihrer Glut.
Ihre Brüste sanft mit den Händen wiegen, hinter ihr stehend. Brust an Rücken. Mein Mund in ihrem Nacken verankert. Eine Handvoll Glück zum Greifen nah: ihre hemdwarmen Brüste. Kindliches Spiel schon darin, dass es nicht schal wird, perpetuum mobile der Nähe. Dieses Dreierritual: die Brüste wiegen, sie auf mein Auge legen, dass sie sich in die Augenhöhlen schmiegen; sie küssen. Vielleicht noch ein Nachspiel: ein wenig übermütig am Rosinchen zupfen, es zart drehen. Spielen, ehe der Ruf alles zerstörte: aufräumen, Hände waschen, Schluss für heute.

4.
Sie sagt: alle Weiber sind doch noch scharf auf dich. Das sagt sie ihr selbst zuliebe. Dass sie den am Band hat, den die anderen so gern hätten. Ohne Neid kein Glück. Und ich mach ihr den Gefallen, sag: ich muss jetzt zu den Mädels und geh dann doch nur in die Bibliothek. Dort verrenk ich mit Herzklopfen den Hals, wenn ein Blick in ein Dekolleté zu erhaschen ist, ewiger Bettelflaneur, der sich die Nase an den Schaufenstern platt drückt.
Mein Freund zitiert gern Schopenhauer, der sich erleichtert zeigte, als er endlich vom Alter die Impotenz geschenkt bekam; ich empfinde sie als hämischen Diebstahl. Was bleibt, ist safer Händchenhalten.

5.
Vom Apfelbaum stürzen sich Früchte mit einem hinkenden Doppelgeräusch ins Gras: ruuusch,- plump. Der Akzent liegt auf dem zweiten Klang. Zweisilbig auch hoch droben der Schrei der Gänse im Flug. Sie hat mir beigebracht, beim Orgasmus aufzuschreien, das Verdruckste, gleichsam hinter vorgehaltener Hand, ließ sie mir nicht durchgehen. Ich will dein Seufzerchen hören. Danach ist es mir unvermeidlich geworden. Wie ich früher mich anstrengte, es nicht "herauszulassen", müsste ich heute mich sehr konzentrieren, den Lustschrei zu unterdrücken. Der Schrei der Gänse hoch über mir hat nicht das Aufgeregte oder Schwatzhafte von Vogelgesang. Auch nicht dessen Leier, die wiederholt und wiederholt, weil es nichts zu erzählen gibt. Er ist ein Ausbruch. tiefkehlig, nicht zu vermeiden.

6.
Wo würde ich den Schlüssel verstecken? Gläsernes Kiesknirschen, wenn ich ums Haus herumgehe, auch bei den Schritten des schönen schwarzen Hunds, der als wär’ er zuhause, herumgeht, ist es zu hören, freilich rieselnder, dünner. Zinnsoldatenaufmarsch. Warum bin ich irritiert? Sollte er schweben? Katzen schleichen. Sein Schritt perforiert die Stille, die mich ringsum einwickelt, in Sicherheit wiegt. Es ist der Schreck im Kinderbett: da kommt jemand!

Auf dem taufeuchten Gras ist mein Schritt ganz lautlos, aber rasch werden die Sockenspitzen nass, auch wenn ich den Schritt wie ein Storch von oben herab aufsetze. Barfuss laufen? Ekel, auf Schnecken zu treten oder Würmer zu zermatschen, Ameisen zerdrücken. Nur der trockene Sand ist mir an den nackten Füßen erträglich, in ihm versinke ich ohne Ekel, genieße, wie er mich einhüllt.

7.
Die meisten Frauen sind mir nicht recht, ich finde sie unappetitlich. Nur wenige erscheinen mir erträglich oder wenigstens neutral. Rarer als ein vierblättriges Kleeblatt sind jene, bei deren Anblick es innerlich sticht, die mich entwurzeln, hinreißen. Manchmal stelle ich mir vor, was für ein Chaos ausbräche, wenn jeder Mann jede Frau gleichermaßen begehrenswert fände. Ist das nicht bei Hunden so? Sobald der Schalter "läufig" eingeschaltet ist, löst das beim Männchen die Begattungsautomatik aus. Wenn jeder mit jeder möchte, was würde da mit uns geschehen? Ich meine nicht das dumpfe "mir ist jede recht", sondern jenen Wahnsinn des ununterschiedenen Begehrens. Da gibt es dann keine Maßstäbe mehr, kein "blond", keine "Supertitten", kein "Prachtarsch", kein Geldsack. Ein Weib - ein Mann, das reicht. Vermutlich wie der Wahnsinn des Autisten, der keine Reizfilterung hat und sich nur noch durch panisches Abschotten retten kann. Wenn ein einziger Liebeskummer schon so zerrütten kann, was geschähe dann mit hunderten solcher Gefühle?

8.
Vom Wohnhaus führt eine klobige Holzbrücke mit einem rustikalen Geländer zu einem kleineren Nebenhaus. Dort ist das Dach mit Moos und Gras bewachsen, das den Schritt unsicher macht, zaghaft. Als ich über ein frisch gemähtes Stoppelfeld wanke, den nackten Fuß zu zögerlich aufsetzend, schimpft sie mich unmännlich, beizende Verachtung in ihrer Stimme.
Aus dem Holzhaus hinaus ein betörender Fensterblick auf den Teich, die Wiese, den Waldrand. Auf dem Tisch unterm Apfelbaum die rote Friedhofskerze. Abends spiegelt sie sich im Wasser; vom Haus aus könnte man meinen, das Licht schwebe. Hab ich meine Angst aus Märchen? Das Irrlicht, das im Moor geistert, den Wanderer vom sicheren Weg ablockt. Mir fällt der idiotische Spruch aus der Grundschule ein: "Wenn dich böse Buben locken, zieh die Schuhe aus und folg in Socken." Nicht zufällig hat das Wort Sumpf auch eine moralische Bedeutung. Weich, nachgiebig, einsaugend, verschlingend. Verführend. (Wie uns die Frauen im Religionsunterricht geschildert wurden).

Vor mir, draußen, die bunte Welt; unrealistisch farbenprächtig, traumhaft leuchtend. Aber im Rücken bleibt ein dumpfes Ziehen, der Geruch dunkel gebeizten Holzes, noch unbewohnt, rau. Vor mir die Postkartenidylle, hinter mir die Kinodunkelheit. Die Realität im Rücken betont die Irrealität des Bilds vor meinen Augen. Ich habe Angst, mich umzusehen. Vielleicht hat sie hier drinnen den Schlüssel für das Haus verborgen.

9.
Der See ist am frühen Morgen zum Draufsteigen glatt, erst beim Nähertreten springen an den Rändern die Frösche hinein, auch wenn ich leise auftrete. Libellen stehen vibrierend in der Luft, ehe sie weiter schießen. Einen Augenblick spüre ich die Versuchung, mit Schuhen ins Wasser zu treten. Wie Kinder in eine tiefe Pfütze steigen, um das heftige Entsetzen der Mütter zu genießen. Niemand sieht mich. Ich tu`s aber nicht. Deswegen?

10.
Die riesige Linde in dem vertieften, gemauerten Steinrondell. Der Blick verliert sich nach oben, immer ungläubiger, wie bei New Yorks Wolkenkratzer. Eine nach oben geschoßene Blätterfontäne und nun fällt sie nicht mehr herab, ist zur Gestalt geronnen. Ich staune, wie ist das möglich, eine so gewaltige Architektur, und kein Blatt kommt zu kurz, wer steuert das?

Im Glas Wasser aus dem Brunnen, das ich neben mich gestellt habe, bilden sich kleine silberne Luftbläschen. Wie auf alten Fotos, freilich ohne deren Magie, die sie entrückt. Ich wage trotzdem nicht, aus meinem Glas zu trinken.

Jetzt schiebt sich die Sonne über den See zu mir herüber, obwohl sie hinter mir am Himmel hochsteigt, nein, der Schatten weicht zurück, schrumpft, verliert an Land, so scheint der Garten und dann der See aufzutauen, als zöge man eine Folie weg, unter der die Farben verstumpft waren.

11.
Eine alte Milchkanne ist mit Regenwasser voll gelaufen, dreckig angefaultes Laub schwimmt oben. Als ich die Milch verschütte, die man damals noch mit der kleinen Kanne kaufte, weint meine Mutter, ohne mich zu schlagen. Trotz ihrer dringenden Ermahnung habe ich wieder, mich vor den anderen Kindern aufspielend, den Trick vorgeführt: die Kanne im Kreis drehen, ohne was zu verschütten. Das Problem war das Ende der Drehbewegung. Heute das Übermaß an Plastikgefäßen, Plastikverpackungen, Umhüllungen, die den Gegenstand zum Greifen nahe rücken und doch hartnäckig entziehen. Der Kampf mit der störrischen Folie, am Ende muss man immer Gewalt anwenden. In Bunuels Film höhnisch, sadistisch unzugänglich die junge Frau in ihrem Kleid mit den tausend Knöpfen.

12.
Hinterm Haus eine Dusche, mit einem Strohmattenparavent dem Blick des Nachbarn entzogen. Das eiskalte Wasser auf dem Bauernhof in der Toscana, in das ich am Morgen, nach Luft keuchend, steige; schon flimmert draußen das Grillenpfeifen. Rosmarinduftschwaden ziehen über die Terrasse.
Im Heim sprang ich um sechs aus dem warmen Bett, in die Bewusstlosigkeit des Wachens hinein, dann unter die Eisdusche. Mutprobe? Selbstverprügelung. Das lief unter Abhärtung, Disziplin, und hatte nicht mal die Gratifikation der Bewunderung durch die jungen Mädchen am Strand oder sonst wo.

13.
Auf der Wiese draußen rupfen Kühe das Gras ab, sehr laut, es klingt wie Stoff zerreißen, wenn Verkäuferinnen das abgemessene Tuch kurz anschneiden und dann entzwei reißen. Aber härter. Mechanisch, ohne Wut oder Eifer. Fressmaschinen, ohne Sentimentalität für das frische Grün der Wiese.

14.
Stille liegt wie schweres Tuch über mir, Vogelzirpen sticht kleine Löcher rein, die sogleich wieder zuwachsen. Wenn ich lausche, zieht sich das Netz enger über mich zusammen, erst wenn ich mich meinem Tagebuch zuwende, bläht sich die Lautlosigkeit wieder, erhöht den Raum über mir.

15.
Als ich am Rand des Grundstücks auf die Wiese hinaus fotografieren will, über den elektrischen Zaun hinweg, wo die Kühe ihr Gras verdauen, verliere ich die Batterie aus meinem kleinen Fotoapparat und sogleich wird er auf erschreckende Weise blind. Ich suche sie mit den Augen im Gras, vergebens. Ich weiß, sie kann nur in einem Umkreis von wenigen Metern liegen. Aber das Gras ist langmähnig, saftig, feucht. Ich muss es umbiegen, ausrupfen, nun mache ich selber das Geräusch der Kühe. Ich hole ein Handtuch, knie mich darauf und untersuche den kleinen in Frage kommenden Fleck systematisch, verschiebe die Brennnesseln mit dem Jackenellenbogen, schließlich finde ich die kleine schwarze Batterie. Hässlicher Fremdkörper am Grunde des Grasfells. Das Haus verliert nichts, Spruch meiner Mutter.

16.
Im Traum benutze ich aufgeschlagene Bücher als Schneeschuhe, haste mit ihnen durch den Tau der Wiese und sehe mit Panik, dass sie an den Rändern feucht werden, aufweichen, lappig an meinen Füßen herabhängen.

17.
Oben im Dachraum steht eine Doppelbadewanne. Verkehrte Welt: er quiekt und sie spricht beruhigend oder macht die Scherze, über die er dann kreischt. Es tropft durch die Decke, in mein Weinglas, zu regelmäßig, als dass es wahr sein könnte. Die Uhr am Fenster, der der Wassertropfen im Hahn antwortet, dunkler, immer boshaft synkopisiert. Ich lege ein Tuch unter den Hahn und rücke das Glas zur Seite, da zieht sich der letzte Tropfen wieder zurück nach oben, wie eine hochgezogene Rotzglocke. Schneuz doch, sagt meine Mutter, hast du kein Taschentuch?!

18.
Im modrig riechenden Keller Froschleichen, dünn wie Abziehbilder, aber doch immer noch ein wenig dreidimensional, wie Gelee. In der Ecke schaukelt ein Weinkarton im Wasser. Er ist unten aufgeweicht, die Flaschen stehen auf dem Boden, verankert im Brackwasser, der Karton eine wacklige Bootshütte. Im Keller kroch das jährliche Hochwasser aus dem Boden, wenn die Mangfall über die Ufer trat. Im Krieg, während der Bombenangriffe aber lagen wir trocken auf Decken. Das Zittern des Bodens, wenn eine Bombe einschlug, ich flehe die Frauen an, lauter zu beten, das Heulen der Bomben zu übertönen. Sie tun’s, auch für die eigene Angst. Heilige Mariamuttergottes bittfürruns Sünda -


19.
Wir sind verabredet, wieder einmal bin ich es, der wartet, und sie kommt oder kommt nicht, ohne Zusage, ohne Absage, selbstherrlich wie Tote, die entscheiden, wann sie im Traum auftauchen. Man kann sie nicht rufen, man kann sie nicht verscheuchen, nicht ehe sie ihre "Lust gebüßt“.

20.
Liegt der Schlüssel zum Haus etwa im Teich? Rein geworfen wie beim Armen Heinrich, aber kein Fisch bringt ihn mir an Land, keine Ente taucht ihn hoch für mich. Das Wasser ist kalt und voll Ekel fasse ich in den grünen weichen Algenschlamm, die nassen Haare der Geliebten sind seidiger, nicht so pferdesträhnig. Sie hat drahtiges Haar. Man könnte sich an ihm zu Rapunzel hoch handeln. Ihre Schamhaare aber sind flaumig weich, von meinem Speichel feucht, von ihrem Saft verklebt (im kleinen Döschen auf meinem Schreibtisch liegt das Büschel, das sie mir geschickt hat). Undines Haar aber ist schmierig. Ein Fangnetz, schlingpflanzentückisch. Keuchend komme ich hoch, tauche ich auf. Die Molche, die Frösche, Angst vor Blutegeln. Meine Luftblasen steigen empor, zerplatzen über dem Wasser. Buchstaben in jeder Blase und die fliegen davon und ich weiß, sie werden mir fehlen, wenn ich ihr später alles erkläre. Wie kann man einer Frau von Liebe reden, wenn der Buchstabe L fehlt. Ich gehe um den Teich herum und versuche hinabzuschauen, bis auf den Grund. In der Tat ein pfiffiges Versteck für den Schlüssel.

21.
Überall stehen alte Badewannen herum, mit Dreckwasser gefüllt, Regenjauche. In weißer Ölfarbe steht auf den Zinnrand geschrieben, wer schon drin war. Name auf Name, nicht in Bäume eingeschnitten, auf Zinnblech verewigt. Ob in so einer Wanne der Schlüssel zum Haus liegt?

22.
Ich habe für sie überall Zettel hingehängt, an die Bäume, auf die Steine des Hügels, über den hölzernen Gartenzaun. Mit lila Tinte aus dem Schulfüller, aber der Regen wäscht die Schrift ab, sie läuft runter, eine Spur hinterlassend, unleserlich wie Tränen, nein, wie damals an meinem Knie, nach dem Wettrennen mit den Mädchen. Ich muss gewinnen und stürze auf das Pflaster der Straße, Blut läuft, und plötzlich haben alle Mädchen Mitleid mit mir, trösten und stützen mich und starren schauernd auf das Blut, das kleine Bahnen zieht, sich durch den Schmutz herab frisst.
Sie wird mich, wenn sie kommt und nach mir sucht, nicht finden, wenn die Texte abgewaschen sind. Die Versprechungen auf den Texten sehen verheult aus, wie in Backfischtagebüchern. Sie sammelt die vielen Zettel, die ich ihr schreibe, auf dem Frühstückstisch verstecke, ins Bett lege, an die Tür klebe. Ich mokiere mich über ihre Sammlerei von Spontangrüßen.

23.
Ihre Stimme ist weich und gewährend, wie das angewärmte Handtuch nach der Rückkunft vom Rodeln im Winter, wenn die steif gefrorenen Hände beim Auftauen zu bitzeln begannen. Ihre Stimme ist weicher als die der Mutter, die die Hände reibt, ohne Gnade vor meinem Jammern, sei nicht so zimperlich, reiß dich zusammen. Ihre Stimme ist versöhnlich, nicht rechthaberisch. Sie nimmt mich auf, lässt mich nicht abprallen.
Dein randscharfes Hochdeutsch, wasserklar und doch so melodisch. Nur wenn du eifersüchtig wurdest, verhärtete sich deine Stimme, dann wurde sie schneidend.
Oh, ihre Eifersucht: wie ein unvermutetes Gewitter, das alles Sonnenlicht auffrisst. Das heranfaucht, ehe man sich bücken kann und dann alles kurz und klein hagelt.

24.
Eines Tages sagt mein Vater ruhig zu mir, wie nebenbei: den Durchbruch hast du noch nicht geschafft, die Karriere? Und dann, wie um mich zu trösten, leiht er sich von mir Geld, offenbar hat er Spielschulden. Sein Lottowahn, seine Wutanfälle bei der Ziehung der Zahlen, von der Familie gefürchtet, seine Flüche, überzogen wie im Bauerntheater. Die ganze Woche verteilt er in Gedanken den Gewinn an seine Kinder, bis am Wochenende wieder das Unglück nach ihm schlägt.
Er war ein Stadtläufer, die Straße herauf, herab, die Hände am Rücken, von wo er zuweilen die Zigarre vorholt und einen Zug nimmt. Hält er immer noch die Zigarre möglichst wackelfrei, um sie gegen eine neue umzutauschen, wenn er es schafft, die Asche bis zum Ende nicht abfallen zu lassen? Seine Frage reißt eine Wunde, die sich nie mehr schließt. Nein, den Durchbruch habe ich noch nicht geschafft.


25.
Oben im ausgebauten Dachboden, der drohend große Holzengel, schwankt er? Die vielen Lampen, an langen Kabeln bis zum Fußboden herabhängend, schwitzen milchiges Licht aus. Eierlikörgelb läuft es aus ihnen heraus, verklebt den Raum bis in Kniehöhe. Wenn Wind käme, wenn ich Wind machte durch meine Schritte, würden sie dann wie Türglocken läuten, wie im alten Kolonialwarenhändler bei uns zu Haus? Oder zerplatzen, und dann knirschen die Schritte auf dem Holzboden, wie auf Kies. Mutter hat die Brösel gestreut, damit sie hört, wenn ich nachts heimkomme. Warst wieder mit Weibern zusammen, mach mich nicht unglücklich. Ihr Räuspern, ihr Hüsteln: höhnisch, vorwurfsvoll, überlaufend vor Triumph: hab dich schon gehört, mich täuscht du nicht, du nicht, du nicht. Du nicht. Die Versuchung, nun die Zimmertür besonders laut zu zuschmeißen, aber ich traue mich nicht, tue, als hätte ich nicht gehört, dass sie mich gehört hat, schleiche mich weiter um die knarrenden Dielen herum in mein Zimmer, in Zeitlupe den Türgriff drückend. Er seufzt, wie sie aufseufzt, wenn ich sie anfasse, meine Hand über ihr Knie hoch schwimmen lasse. Lautlos leise drücke ich die Tür von innen ins Schloss.

26.
Offenes Feuer im Eisenkorb. So heiß in der Nachtkühle, so hell im Nachtdunkel. Wenn ich ein klobiges Holzscheit nachlege, wallt Rauch in mein Gesicht, beizt in den Augen. Das warme Glühen, das beruhigende Knistern nimmt der Nacht ihre Zudringlichkeit. Wenn es dann aber laut knackt, ja knallt, mit Funkenflug nach allen Seiten, zucke ich doch zusammen.
Der Rücken überzieht sich mit einer Kältekruste, vorne beginne ich zu glühen, vor allem im Gesicht, und mag doch nicht abrücken. Von ihrem Gesicht, wenn sich meine Augen erst daran festgehakt haben, kann ich den Blick nicht mehr wenden, es saugt mich an wie das Feuerzüngeln. Das ist nicht die wandernde Aufmerksamkeit des Lesens, das übers Papier zieht; das ist ein Bindezauber. Ich bilde mir ein, zu schauen, in Wahrheit aber hat sich der Angelhaken in mich gebohrt. Kein Wille mehr, sich loszureißen. Ich werfe ein neues Holzscheit aufs Feuer, Funken stieben hoch. Sternschnuppen von unten nach oben.

27.
Wird sie mich wieder erkennen? Wenn nicht, wie wird sie ihren irritierten Blick kaschieren? Ich bin alt geworden, hab einen Bauch, die Haare sind nun kurz, damals hatte ich sie lang, jesusartig, nur zur Fronleichnamsprozession, über Nacht, ohne Vorwarnung schnitt ich sie kurz, Schock für alle. Die Deutschlehrerin nimmt mich zur Seite, auch sie ist empört, tadelt meine herzlose Provokation. Bin ich jetzt nicht mehr ihr Lieblingsschüler?

Mir wäre am liebsten, wenn sie im Dirndl käme, schilfgrün mit dem großen decolleté das sie beim ersten Mal trug. Ohnedies stört es mich, wenn eine Frau beim zweiten Treffen anders gekleidet ist als beim ersten Mal. Hab mir doch ein Bild von ihr gemacht.

Wozu jetzt noch mal treffen, was soll man besprechen? Wer schuld war? Ach nein, das wäre ödeste Archäologie, die von unten hoch buddelt, was von zahlreichen Schichten des Lebens überschüttet ist. Nichts käme ungebrochen heraus.
Warum spüre ich jetzt ihre Hand nicht mehr, die ich so oft hielt. Ich erinnere mich nur noch an ihre Brüste.
War es ihr Wunsch mich zu treffen, meiner? Nicht über die Vergangenheit reden, nur über die Gegenwart. Welche Zukunft könnte es für uns geben? Die berühmte Freundschaft? Wenn alles Begehren verrauscht ist, auch die Wut und der Hass und der Wunsch nach Vergeltung?


28.
Warum so maulig, so kopfhängerisch? So eine Stimmung stinkt beizender als alter Achselschweiß. Sind es nicht Düfte, die die Geschlechter anziehen? Sie wird den alten Geruch von Zaghaftigkeit an mir wittern, das Unbeherzte. Zu jedem „ja“ gleich ein „aber“. Nur Schwung reißt mit, nur herzhaftes Zugreifen erntet den Apfel. Rücksicht macht auch den anderen unsicher, er fühlt sich beobachtet, unterschätzt. Man muss loslassen um zu binden (Und heut bloß keine naseweisen Sprüche zu ihr wie diesen).
Hat sie mich noch als Begehrenden in Erinnerung. Die heran reißende Umarmung, mit der ich sie schon an der Tür an mich presse bis es im Kreuz knackt. Der unwillkürliche Beckenschlag des Begehrens, noch im Stehen, der Leib kann’s nicht erwarten, das Einsinken in ihren feuchten Mund. Wie soll ich sie begrüßen?

29.
Mutters Blick ist ohne Wohlwollen, immer das prüfende Mustern der Hausfrau am Gemüsestand. Scharfäugig findet sie beim Obst die "Stellen", beim Wintermantel die lockere Naht. Peinlich ihr Feilschen um die Kleiderbügel. Ihr Blick ist kein Leitstrahl zum Landen in ihrem Herzen. Von ihr zu mir: Stichblick, Forschblick. Von mir zu ihr: Furchtblick, Kontrollblick. Hat sie schlechte Laune? Habe ich was falsch gemacht? Wie kann ich ihrer Unzufriedenheit zuvorkommen, das Donnerwetter vermeiden. Nie bin ich ganz in Ordnung, bestenfalls nicht ganz daneben, es geht um Reduktion der Schuld, denn Amnestie wird nicht verkündet, eher die alten Schnitzer wieder und wieder aufgetischt: Ich hab’s nicht vergessen! Nie die heitere Gewissheit: ich bin der Richtige.

30.
Ich hatte mir vorgenommen, ohne Misstrauen hinauszufahren. Nichts erwarten: das Beste nicht, das Schlimmste nicht. Und ich hatte mir eingebläut: Mal dir nichts aus. Warum hier draußen? Wir wollten einen Ort, der frei ist von Gedenktafeln, von Erinnerungsmarken, einen Treffpunkt ohne Geschichte.

Die Hausherrin hatte mir bei meinem ersten Besuch die Route auf der Landkarte demonstriert, sogar aufgezeichnet, und dennoch rutschte ich zweimal über eine notwendige Abzweigung hinweg, erkannte erst viel später den Fehler, musste umkehren, (Mensch-ärgere-dich-nicht), zurück auf die richtige Spur. Bis es immer einsamer wurde, weg von der Strasse. Dann nur noch an Wiesen vorbei, durch Waldwege. Auch sie wird den Weg auf Anhieb nicht finden. Wenn sie Mühe hat, lässt sie mich ihre Gereiztheit büßen. Gibt sie auf, kehrt wieder um? Auch ich habe ihr die Route aufgemalt, die Abzweigpforte aufgeschrieben. Mir scheint meine Zeichnung so klar, doch wer den Weg kennt, sieht nicht die Irrtumsmöglichkeiten.

31.
Ist das die Grundlage von Eifersucht der Frauen, dass sie wissen, spüren, wittern: es ist die Sehnsucht nach Nähe zum weiblichen Leib ganz allgemein, fast jeder Leib kann diese kindliche Angst löschen, den kindlichen Durst stillen. Das fühlt die Frau mit Argwohn, sie hält den Mann in seiner Trostbedürftigkeit für grundsätzlich treulos: es geht ihm um Nähe, die sein innerliches Ziehen friedlich macht, dann erst um die Person, die das gewährleistet.

32.
Weiter hinten im Wald ein kleiner Tümpel, darin unter der grünen Algendecke verborgen ein Unkenpaar. Nur zu hören. Seltsam gedeckt, rauchig, wie eine Glasharmonika der Dialog der beiden Tiere. Huuub - Hub. Was sagen sie sich? Geschichten oder nur: ich bin hier, bist du noch dort? Das Band der Töne reicht ihnen aus, sie müssen nicht umarmen, sich anschmiegen, anpressen, packen, kneten, drücken, verschmelzen. Einfach: huuub ,- hub.

33.
Ich kann nicht mehr warten. Ich hole eine Sense, sie lehnt hinter dem Haus an der Dachrinne, neben der Tonne, in der sich Regenwasser gesammelt hat, bräunlich dunkel. Ich schlage zuerst immer tief in die Wiese, dass ich das Sensenblatt nur mühsam wieder herausziehen kann. Sehr ungeschickt. Bis ich begreife, dass man nicht parallel zur Wiese sicheln darf, sondern die Spitze ein wenig nach oben gerichtet halten muss. Ich erinnere mich der Warnung: sich nicht ins Bein schneiden. Ich komme kaum voran, die Schnittstellen sind unterschiedlich hoch und schon spüre ich den Sensenschlag ängstlich im Kreuz. Ihre Eltern hatten noch einen Bauernhof, ob sie mähen konnte? Ich fühle mich als Taugenichts, ich kann nichts Fundamentales, nur Filigran, Ornamentik,
Da kommt der Dorfdepp aufs Grundstück und lallt einen mir nicht verständlichen Ratschlag. Dann macht er es mir vor. Mähen kann hier draußen offenbar jeder.

34.
Wie damit fertig werden, dass ich von allem nur einen Bruchteil haben kann? Sie unterbricht sich immer rasch, wenn sie klagt: nicht beschweren, ermahnt sie sich, don`t complain. Tatsächlich beschwert man sich immer an der falschen Adresse. Alles was ich tue, denke, fühle ist für praktisch alle Menschen aller Zeiten absolut belanglos, diese wahnsinnige Diskrepanz zwischen meinem Selbstgefühl und meiner tatsächlichen Bedeutung für den Kosmos.

35.
Oben unterm Dach gibt es ein Zimmer, das ist mir ganz unbehaglich, ich nenne es für mich das Menstruationszimmer. Ob sie darin schlafen mag? Alles in diesem Raum ist rot, aber seltsam stumpf. Kein strahlendes Rot wie von Kirschen oder Schwulensatin: nein, rau, dämpfend; vorwurfsvolles Weiberleiden. Sie möchte Lob hören für die stilistische Reinheit des Zimmers, das sie viel Mühe gekostet hat. Kerzen, Bilderrahmen, Vorhänge, das Bett ohnehin, die Wände, die Lampen,- alles ist rot. Uterus, aus dem es kein Entrinnen gibt.

36.
Ich habe geträumt von einer qualvollen Liebschaft mit einer jungen Unbekannten,- schlägt gar nichts durch, kein Erinnern an Farbnuancen, ein Tonfall, ein Name, ein Gesicht? Wir wollten baden, da war aber etwas äußerst Peinliches mit meiner Badehose. Nun kommt mir eine Erinnerung aus der Wirklichkeit: die abgründige Demütigung, als ich im öffentlichen Schwimmbad dem Liebhaber meiner Freundin begegne, ich nackt, er noch bekleidet. Im Traum kneift mich jemand drohendhämisch am nackten Arsch, höhnt über dessen Schlaffheit.
Wie weit liegt das zurück, mein Suchen in Kneipen und U-Bahn, die Mädchen am Kachelofen in meiner Hinterhofwohnung. Das Vorspiel: ich schreibe, sie liest. Aus Gemütlichkeit wird Vertraulichkeit. Kaum eine taucht noch ein zweites Mal auf.

37.
Ich gehe die Dorfstraße entlang, bis zum Ende, wo sie sich verliert. Sie versickert ungenau in der Biegung, in die der Bus beim Wenden seine Schienen eingekratzt hat. Eine desperate Rundung, halb matschig, halb Gras überwachsen; Brennnessel proben die Niemandslandattacke. Der Graben jenseits der Bäume ist ausgetrocknet. Der angedeutete Weg diesseits ist nicht weniger fragwürdig. Man könnte meinen, er ist nur der ausgefranste Rand der Wiesen, deren saftiges Grün hier rostig verkümmert.
Von den wenigen Häusern des Orts sind zwei, drei romantisch verfallen, andere zu putzig, um in dieser Ecke des Landes glaubwürdig zu sein: von "Westdeutschen" inszenierte Landmythen. Aber sie sind bezahlt, während ich das Benzin zur Reise hierher nicht aus eigener Tasche aufbringen kann. Rechthaberische Autos parken vor den Zäunen. Ich habe keinen Pflaumenbaum und keinen Tisch drunter und auch keinen Stuhl. Und was sollte ich auf den Tisch legen? Ein weißes Buch, eine lange lange Tintenspur, die sich lila schlängelt über das Weiße. Die Laute verknotet zu Worten, die Sätzen verhäkelt zu Geschichten. Efeusprache, wer mag sie lesen? Sinnierknäuel, wer mag sie entwirren? Da es doch so viel Glattes gibt.

38.
Meine Feigheit, als ich einfach die Wohnung verlasse, den beiden Frauen entfliehend, die so hartnäckig Sitzfleisch demonstrieren. Keine geht, um der anderen das Feld, (das Bett) zu überlassen. Und ich: kann mich nicht entscheiden, will`s mir mit keiner verderben, verderb`s mir mit beiden. Leise ziehe ich die Tür zu, schleiche die vier Treppen hinab. Wann merken sie den Betrug? Solidarisieren sie sich, durchsuchen sie die Wohnung? Richten sie Racheschäden an?
Als ich nach Stunden wiederkomme: sind beide weg, nichts ist in der Wohnung verändert. Sie sind spurlos weg geschwommen. Die, mit der ich gerne was gehabt hätte, ist nie wieder aufgetaucht.

39.
Ich fühle mich nie als Respektperson, als einer, dessen Erscheinen ein Auftritt ist. Bei Frauen bin ich immer der Bittende, Hoffende; Almosensammler wie Lazarus aus der Bibel, der dankbar war für die Brösel, die vom Tisch fielen. Demut nicht Forderung, überraschtes Glück, dass (ausgerechnet) ich begünstigt werde,- von so einer Superfrau! Deshalb wirke ich so jung, am Telefon schon sowieso, aber auch real, Mein Auftritt ist zaghaft; kess, versteckt respektlos nur in der Ironie, im Spott über rasch gesehene Fehler, im Verhöhnen von nicht eingestandener Unvollkommenheit. Treffsicher finde ich sofort einen Spitznamen, der alles sagt. Warum tue ich das? Was gehen mich die andern an?! Die Aufgeblasenen, die Bornierten, die Selbstgerechten, die Feigen? Ist das nicht Rancüne dessen, der sich arm weiß, hilflos, unerfüllt, und der nun denen, die sich komplett fühlen die Suppe versalzen will, ihnen ihren Pseudobesitz vermiesen. Ach das ist doch Pinscherkläffen, Rattenmentalität. Ihnen nehme ich nichts weg, mir schlage ich nichts dazu. Meine innere Überheblichkeit ist ein Zinnsoldatensieg.

40.
Ihr zuckender Beckenschlag, konvulsivisch. Fast zum Lachen, aber er bringt mich in Verlegenheit, rascher als ich möchte bin ich verdrossen. Ich habe Schwierigkeiten, mich ihrem Rhythmus anzuschmiegen, sie dem meinen anzupassen, ihn ihr aufzudrängen will mir nicht glücken. Gereizt stöhne ich: Zappl doch nicht so, du schmeißt mich ja ab. Fühle mich als Nussschale auf dem Ozean, hilflos. Schlimmer aber ist das Asynchrone der Gefühle. Ich will sex von ihr. Wenn mir das nicht reicht, wenn ich mit ihr reden will, über sie, (warum nie über uns?), dann hält sie mir nur ihr dämliches, verklemmtes, verstocktes Lächeln hin. In ihren Körper lässt sich mich ein, in ihre Seele nicht. Ich begehre ihren Leib, sie mein Begehren. Sie fühlt sich aufgewertet durch mein Verlangen. So reiben wir uns aneinander, knarrend wie verschlossene Walnüsse.

41.
Ich habe nie mit ihr über unsere Beziehung gesprochen, warum nicht? Als die Enttäuschung mich schon vergiftete schien es mir zu spät. Aber auch am Anfang nicht, als meine Erwartungen noch loderten, als noch keine Erfahrung die Hoffnungen durchstrich, abhakte: nichts zu holen. Meine Enttäuschungen kann ich aufzählen, und ihre an mir?
Bei anderen Frauen ist es nicht so weit gekommen, Abbruch ehe ich Wurzeln schlagen konnte. Zum Beispiel die Fahrt zur Insel, der Gang durch die Fabrikhalle, beides Mal hinterher ein ziehender Abschiedskuss, schwankend zwischen „auf die Wange“ und „auf den Mund“, es zog Fäden, die nach Verknotung rochen. Seelenkäsefondue. Sie hat sie rechtzeitig abgeschnitten. Wem zuliebe?

42.
Wenn sie ankommt, ehe ich den Schlüssel gefunden habe,- dann werde ich wie früher Entschuldigungen stammeln, stottern, räuspern und würgen. Ich habe die flache, windige Stimme meiner Mutter geerbt. Sie klingt kraftlos, rasch wird sie rissig. Schon der dünnste Kneipenlärm zerzaust sie. Und hätte so gern den dunkelklangvollen Erzählbass meines Vaters, der männlich brummelte, nie ehefrauenkeifig. Auch ihre rechthaberische Kasuistik hat sie mir zugeschanzt, ihr Grübeln auf Millimeterpapier, nicht das ausschwingende Erzählen meines Vaters ohne Scheu vor Wiederholungen, effektreich, auf Lacher hin erzählt, die Respektlosigkeit vor Gott und der Welt als kalkulierte Wirkung, also doch damit Anerkennung sammelnd. Die Rolle des Kasperls, der sein Publikum beleidigen darf, weil er es unterhaltsam macht. Kein Prophet, der ihnen die Leviten liest, dass ihnen das Lachen im Hals stecken bleibt. Und wie meine Mutter habe ich nichts zu erzählen, obwohl inwendig, bei ihr wie bei mir, ein endloses Spinngewebe von Grübeleien gesponnen wird. Was herauskommt ist zerrissen, verklebt.


43.
Das kraftvolle Fauchen des Winds in den Blättern der hohen Bäume. Er drückt in die Segel, doch der Anker ist nicht gelichtet. Knarrend beugen sich die hohen Masten der Bäume, die Blättersegel blähen sich, pendeln ungeduldig vorwärts und rückwärts, doch wie angewurzelt bleibt alles am Ort. Der Wind schiebt voller guten Willens an, strömt dann doch einfach weiter, ohne Larmoyance.
Wo stockt es? Die Segel der Bäume sind groß, der Wind ist kräftig. wo hat sich mein Schiff verhakt? Auf der Stelle schaukeln, das ist der Kinderwagenbetrug, und die Schaukel am Rummel ist dessen Fortführung: man spürt den Schwung voll im Bauch und doch geht es nicht voran. Bin ich hängen geblieben, gestrandet oder nur verhakt?

44.
Sie wird im Auto kommen, wie sonst? Allein? Als wir uns trennten, hatte sie keinen Führerschein, aber wen sollte sie mitbringen? Es geht nur um uns, und dann doch nicht nur, wir sind keine Potemkinschen Dörfer, hinter uns ist es nicht leer. Wie wird sie aussteigen, wie ihr erster Blick? Verzögert mit einem überdehnten Rundblick in die Gegend, dem Achten auf den Weg, erst zuletzt auf mich gerichtet? Offen lächelnd oder reserviert, gar vorwurfsvoll? Die letzten Schritte aufeinander zu sind nicht leicht zu choreografieren. Hab ich genug kindlichen Blick, der bang auf das Zünglein an der Waage lauert: "akzeptiert" oder halt "nicht akzeptiert". So fiebert manch einer die Ziehung der Lottozahlen an. Wie wird sie ihr Wiederkennen, ihr nicht Wiedererkennen ausdrücken? Handschlag oder Umarmung? (Den Unterleib zurückgezogen).

Welche Rolle ziehe ich aus dem Hut? Bange Erwartung, humorvolle Harmlosigkeit, ergriffene Befangenheit, das Befangene aufstechend durch Thematisieren des Gefühls? Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen?
Nicht ihre Hand mit beiden Händen umfassen, nicht einschmelzen. Nicht Enttäuschung oder gar Wut zeigen über ihren rasch entzogenen Händedruck, wenn ihre Finger steif und ohne Druck, im vorderen Drittel der Handflächen schon abbremsen, nicht einklicken, mich nicht ranlassen, im verweigerten Druck flutsche ich ab. Oder das neudeutsche, aus Italienreisen importierte Wangenküsstheater? Wenn, wie oft? Zweimal oder dreimal,- was für eine kuriose Assymetrie? Wenn dreimal, dann doch auch hundertmal. Verhandeln durch die geschlossene Tür, durch einen Spalt nur, hinter der rasselnden Sperrkette.

45.
Ich erinnere mich mit Scham an meine Sprödigkeit, auf dem "Sie" zu bestehen (das war damals unter Studenten üblich); sie will, dass wir es über die Brücke ins Wasser spucken, ich tue schwerfällig, verstehe nicht, was sie meint. Bleibe in der Reserve. Die Spucke treibt langsam in den See, der Wind zeigt wenig Interesse, sie zu schieben, schon wird sie dünner. Keiner der Frösche ist so blöd, sich nach ihr hin zu strecken, Fische gibt es keine im Teich, auch sie wären nicht dumm genug. Als Kind hofft man immer, wenn das Entenfutter ausgegangen ist, die Tiere übers Reinspucken anzulocken. Sie fallen ja kaum auf das Stöckchen rein.

Heute duze ich praktisch jeden, nur "Ältere" nicht,- wann erkläre ich jemanden dazu? Oder "Respektpersonen". Ich bin gekränkt, wenn man mich siezt. Nehme es als herben Hinweis auf mein Alter, Indiz, dass die anderen die gleichen Maßstäbe anwenden wie ich. Was für ein seltsames Ritual: die Distanz, die sich im SIE ausdrückt, auszuspucken, in den Bach, damit sie wegschwimmt mit der Spucke. Der hohe Preis der Aufklärung, daß sie solche Rituale einbüßt.

46.
Ich stehe auf dem Holzsteg, leg mich auf den Bauch, den Kopf überhängend schaue ich hinein in den Teich. Viel Gekrabble und zuckende Bewegung: sind das Blutegel? Nein. Aber Molche gibt es auch schon und bald, nach einigen Zentimetern wird das Wasser grünlich, sieht man die feuchte Algenwolle wabern. Ob sie wirklich da drin den Schlüssel aufbewahrt? Weil sie weiß, wie sicher er da drin ist, weil sie weiß, dass wir alle Stadtfeiglinge sind, kreischende Angst vorm kalten Wasser haben und gar nun die Algen. Wenn’s mir doch gruselte: da drin bestimmt.
Wann verliert sich die Lust der Kinder am Schlamm, der Eierpampe? Ich habe noch eine dünne Schwundform davon bewahrt: wasche gerne mit den Händen das Geschirr ab. Ist nicht auch ein Großteil des Vergnügens das Schaudern der Erwachsenen über das kindliche Matschen (die grünen "Sleimis" garantierten nicht nur bei Omas sofortiges Aufkreischen, entsetztes Zurückzucken.) Dabei habe ich wenig Ekel, Blut macht mir überhaupt nichts aus. Nasse Haare auch nicht. Aber ich werde nicht in den Teich steigen.
Ich drehe mich auf den Rücken, lege aber zuvor ängstlich das handy zur Seite und auch gleich den noch Beistift, den ich immer in der Hosentasche habe.

Die Wolken schwimmen. Wenn ich ganz steil zum Himmel blicke, nur noch die Wolken sehe, beginnt mein Holzsteg zu treiben. Langsam, wasserweich, kein Schaukeln, kein Zittern. Der blaue Himmel zeigt mir nicht die Richtung an, kein Ziel.
Mal dösen,- probeweise. Aber das kann ich doch gar nicht, mich treiben lassen, ins Blaue hinein. Ohne Eigenzappelei, die sich jeden Abend, wenn ich mit leeren Händen dastehe, als Hamstergalopp herausstellt. Hastig auf der Stelle getreten, atemlos um mich selbst gekreist, nein, nicht mal das. Es ist das Trickrennen der Pantomimen. Immer angestachelt vom "Morgen aber..." Am Abend, wenn Stille herabrieselt auf mich wie Landregen, dann ist erst noch alles aufgewirbelt, bis ich dann klar sehe: meine Hände sind leer.
Was macht der Schauspieler, wenn der Vorhang nicht fällt, wenn er einfallslos und beschämt an der Rampe steht; alle Pointen verschossen, auch Hilflosigkeit zieht nicht lange. Kein Beifall, natürlich, nicht mal aus Mitleid. Von wem auch: die schauen ja alle ganz wo anders hin. Morgen aber - Die Selbstbelügung, nicht nur der Alkoholiker: morgen! (Morgen ist allezeit magisch).

47.
Der romantische Blumenschenker, Briefeschreiber, einfühlsame Zuhörer. Mit naher Stimme lange Sätze auf den Anrufbeantworter, Kreidegrüße auf dem Bürgersteig vorm Haus. Er bringt keinen hoch und dann doch - ohne Liebe, ohne Schwärmen. Er kommt ohne Geschenk, greift ihr gleich zwischen die Beine, die Tochter latscht durch das Zimmer, hastig die Vorhänge zu, und dann zur Sache. Der verwunderte Orgasmus. Schwindlige Lust.

48.
Wenn ich eine Hand ins Wasser hängen lasse, mich tot stelle. Ob mich die Nixe packt, hinabzieht zu sich? Nein, die locken ja, wollen verführen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Früher in der Schule wurde immer erzählt, in Internaten, auf Schulreisen, wenn man einem Schlafenden die Hand in warmes Wasser legt, dann pisst er ins Bett. Ich wollte immer so gern in ein Internat, weg in die Traurigkeit der Elternlosigkeit, die poetischer war als die Traurigkeit zu haus, im Kinderzimmer, mit den Strafe brütenden Eltern nebenan in ihrem Doppelbett. In ihrer Kampffront der Verständnislosigkeit. Der keifigen, zum verbissenen Kampf entschlossenen Eifersucht der Mutter. Alle anderen Frauen außer ihr sind "Weiber", notfalls sogar "Menscher". Mach mich nicht unglücklich. Wenn ich vom "Weibsbild" nach hause haste, immer zu spät, muss ich an einem hohen Holzkruzifix vorbei. Wenn ich gewagt hätte, ihm die Zunge rauszustrecken, ihm die Faust zu zeigen. Dann hätte ich nicht Seitenstechen gehabt vom Rennen. Er hing wegen meiner Sünden da droben und meine Hand roch nach ihrer Spalte. Zum Glück schaute er, die Augen verdrehend, schräg nach oben, nie zu mir herab. Er hätte meinen Hass gar nicht bemerkt.

49.
Wenn wir Kinder bekommen hätten, wären wir bestimmt auch bald auf die andre Front hinübergedriftet: zu den pädagogischen Sprüchen: Vitamine essen, Schlaf vor Mitternacht, erst Schularbeiten, und wie siehst du denn aus? So willst du auf die Straße?
Einmal, in einem selbst mir unvermuteten Anfall von Sentimentalität, wir gingen an dem See mit den Mietkähnen spazieren, sagte ich zu ihr: Wär’ das nicht schön, wenn wir eigene Kinder hätten? Sie zeigte keinerlei Reaktion, aber später ist sie wiederholt auf diesen Schock zurückgekommen. Vermutlich der erste Riss.
Wie bei allen Freunden ringsum hätten auch unsere Kinder einen Keil zwischen unser Bett getrieben, das nun ein Ehebett war. Wenn man die Kinder endlich ins Bett getrickst, in den Schlaf gemogelt hat, im Kampf mit ihren unerschöpflichen Erpressungen, dann noch Kraft zur Liebe, gar zur Leidenschaft? Und am Morgen kommen sie eh früher ins Bett als man wach wird. Und wenn schon mal, dann rasch, und nicht so laut, die Kinder können uns hören.
Wir haben keine Kinder bekommen. Du nicht mit mir, ich nicht mit dir. Meine Umarmungen haben an deinem Leib keine Spuren hinterlassen, mein Samen ist wieder rausgelaufen, weggeduscht; meine Küsse haben deine Lippen so wenig gestempelt wie deine Zunge.

Damals hat eine Ärztin die schlecht deflorierte Vagina erweitert, wer war wohl jener halbherzige Eröffner deines Leibs, hast du von ihm noch ein Gespür? Mir ist das Zeitlebens erspart geblieben, fand keine Lust darin, den Leib einer Frau aufzureißen, wozu bloß diese abstoßende Erfindung der Natur? Doch hoffentlich nicht für die Dumpfmänner, die nur Originalverpackungen konsumieren. Einziges und doch unzureichendes Garantiesigel, mit dem die Evolution dem Mann die exklusive Samenablage garantieren will? Ein Rest jener männlichen Doppelmoral, mit der er ohne Bedenken seinen Stängel überall eintunkt, es aber "appetitlicher" findet, wenn das Tunkloch exklusiv bleibt. Ich wollte nie einer Frau Schmerz zufügen, schon gar nicht im Bett. Mein fassungsloses Entsetzen als sie eines Morgens auf meine Frage: was kann ich für dich tun, antwortet: Würg mich.

50.
Ich habe in den sieben Jahren, in denen wir zusammenlebten, keine andere Frau angefasst und trotzdem hast du mich mit deiner Eifersucht so zermürbt, so heruntergedrückt, dass ich dich verlassen habe. Der letzte Auslöser war, dass du am Ende sogar meinen Freund, der auch deiner war, Studienkollegen wir alle drei, als Nebenbuhler verdächtigt hast. Dabei war mit dir alles, wirklich alles für mich der Himmel auf Erden. Dein schmelzender Liebreiz, deine meerblauen Augen, die klare und doch sanfte Stimme (wie ich dein randscharfes Hochdeutsch bewundert habe!). Der geistige Austausch. Ich war ungeschickt im Bett, aber bemüht, es dir recht zu machen. Alles war gut, solange wir allein waren. Wehe, es tauchte eine Frau auf, wehe, es kam ein Kommilitonenpärchen zu Besuch in unsere Dachwohnung. Kaum waren sie aus der Tür brandete das Unwetter auf. Dann wurde deine Stimme reibeisenscharf, stricknadelspitz, stochernd, kratzend. Ich hab’s genau gesehen: du hast sie ununterbrochen angeglotzt, bist immer näher an sie rangerutscht, warum rennst du ihr nicht hinterher .
Damals hatte mir ein Freund empfohlen: Sag doch: gute Idee, ich bin in einer Stunde wieder da. Aber das hab ich nie gesagt, hab mich nur immer verteidigt, hab gefleht, stundenlang. Ach, dergleichen folgt ja einer so abgeschmackten, standardisierten Choreographie. Bis dann spät spät in der Nacht die tränenvolle Verzeihung, die erschöpfte Versöhnung dran war. Dann wurde dein keifiger, strohiger Leib wieder wildlederschmiegsam, dann war alles wieder gut.

51.
Wenn jetzt Regen fiele, die Gänsehaut des Sees, die Wasserschnüre endlos nach oben, das vielstimmige Rauschen des Wassers. Ich wünschte, es käme ein Wolkenbruch über mich. In hunderten und aberhundert sanften Stichen spür ich mich, die Handflächen nach oben, wo sich kleine Pfützchen bilden, auch in den Augenhöhlen, bis sie überlaufen, schmerzlose Tränen. Die Kleidung säuft sich voll, ich habe das Gefühl, dass sie sich von mir abschälen möchte.

52.
Es war eine andere nicht du, mit der ich durch den Platzregen lief, barfuss durch den Park vor’m Haus und die durchnässten Kleider immer schlacksiger am Leib. Getrieben von überkochendem Glück: nach so vielen Jahren der erste Beischlaf. Ihr schrecklicher Spruch: Loch ist Loch, warum grad mit mir? Und nun doch endlich mit ihr. Danach bin ich nie wieder kreischend, lachend, Hand in Hand mit einer Frau durch den Platzregen gerannt, aus dem dunklen Zimmer stürmend, wo das Bett noch dampfte. Und hinterher? Was haben wir dann gemacht? Wieder ins Bett zurück, die nassen Kleider auf dem Fußboden? Ich weiß es nicht mehr. Du hingegen hast mich einmal sogar angespuckt, weil ich dir Wasser ins Gesicht gespritzt habe, als du unter der Dusche standest. Giftig, keifig, deiner nicht mehr mächtig, dass ich das so deutlich verkündete Verbot übertreten hatte. Ich fand es wunderbar lustig, auch dein böse verzerrtes Gesicht; es war nicht bedrohlich wie bei den Eifersuchtsanfällen, nein überhaupt nicht.

53.
Es regnet nicht mehr, aber die Sonne hinter den dünnen, dreckigen Wolken wärmt auch nicht. Sobald sich eine der fetteren Wolken vor sie drückt, ist es, als ob sie ihre Wärme zurücksauge und schon kriecht Kühle nach, drängt sich in das Vakuum. Alle Türen ins Haus sind ordnungsgemäß verschlossen, keine aus Versehen doch auf. Ich werde den Schlüssel finden müssen, ohne zahllose Decken überlebt man hier draußen die Nacht nicht. Als ein Auto sich nähert, man hört es in der Stille ja schon von weitem, gar langsamer wird, fahre ich hoch. Zu schnell; taumelig knie ich noch einen Augenblick, will mich aufrichten, da fährt das Auto auch schon vorüber. Hab ich ihr die richtige Hausnummer gesagt? Es gibt ja nicht mal ein Dutzend Häuser, wenn sie am Grundstück vorbeifährt, husch, schon ist das Dorf zu Ende, sie muss wenden. Das Auto hält, man hört Türenschlagen, Gelächter, Stimmen. Dann ist es wieder so still wie zuvor.

54.
Wär’ es mir lieber, wenn sie nicht käme? Die andere hatte mich in einer Kneipe sitzen lassen, schrecklich der japsende Blick zur Tür und jedes Mal war sie es nicht. So jaulen Hundchen, die vom Supermarkt angebunden sind. Wie lange habe ich auf sie gewartet? Die Zweifel fressen: hab ich den Tag verwechselt? Ein anderer Ort? Ist was passiert? Hab ich sie übersehen? War sie vor mir da und wollte nicht warten?
Schweren Herzens, nach wie vielen Anläufen? war ich ausgezogen. Wir hatten uns danach lange nicht gesehen, dann hatte sie angerufen. Ich überrascht, erschrocken, misstrauisch, euphorisch, was für ein Gefühlsmischmasch. Was hab ich vom Wiedersehen erhofft? Versöhnung? Neuanfang? Und nun wieder ein Herz klopfendes Warten. Wie unbelehrbar ist man, solange noch Verliebtheitsbakterien im Blut kreisen.

55.
Eine Schneeflocke weht auf eine warme Hand: mein Leben. Und wenn sie auf einen Handschuh fällt?- ist nicht viel gewonnen.

56.
Nicht nur lästig, nein kränkend: diese allgegenwärtigen weiblichen Sexualsignale. Nicht auf Charakter, ja nicht einmal auf Schönheitsideale wird man hingewiesen, hier geht’s nicht darum, ob sie mein Typ ist oder nicht: es geht hier nur ums Verkaufen. Die Jungmädchenleiber aber sind nur Verpackung für jedwede Art von Ware. Wie in Tunesien, wo es mich aufs äußerste empörte, dass mich die verkaufsbrünstigen Händler an der Jacke in ihren Laden zerrten. Sie sehen in mir nur einen Käufer, sonst nichts. Damals vermeide ich Hass erfüllt den Blickkontakt, aber auch zusehends panisch, bedroht wie eine Blondine am italienischen Strand. Dabei bin ich doch wegen des Schauens hierher gekommen. Das Fremde lustvoll zu sehen. Ich beginne Frauen zu verstehen, die sich immer angestarrt fühlen, mit begehrenden Männerblicken abgetastet, taxiert. Wie mühselig, immer reagieren zu müssen, indem man keine Reaktion zeigt, Ahnungslosigkeit heuchelt.
Vor all diesen aggressiven Büstenhalterfotos, Unterwäschenfotos, offenen Mündern, entblößten Nabeln, gespreizten Schenkeln, mich festnagelnden Augen bleibt mir nicht einmal die Möglichkeit des trotzigen Wegschauens, der wütenden Verwünschung. Die auf den Fotos inszenierten Mädchen sind längst über alle Berge, verprassen ihr Verführungshonorar. Ihr Abbild aber kommt über mich. Soll ich ein Riesenposter anmaulen? Wie ein Bekloppter Säure ranschütten? Die "Stellen" übersprühen?

Hier draußen wird es ruhig um mich herum. Alles hält meinem Blick stand, ohne gleich aufzuglimmen, ohne mich anzusprechen. Der Baum interessiert sich nicht für mich, er sendet keine Signale aus, die mich auf ihn aufmerksam machen. Er ist einfach nur da.


57.
Und wenn alle Frauen meines Lebens kämen? Welche würde ich nicht wieder erkennen? Oder peinlich nach dem Namen kramen? Bedrohlich, gleichviel ob männlich oder weiblich, die Herde, die sich hochschaukelt, immer lauter, kesser, Angriffslust, zumindest Spott, kreischende Breitseite, die sich heranwälzt. Man kann froh sein, wenn dieser Geschlechtsklumpen es einem durchgehen lässt, dass man dümmlich mitlacht über die Anzüglichkeiten und höhnenden Provokationen.
Alle Frauen meines Lebens? Wie viele? Wen rechne ich dazu?

58.
Mit ihr hab ich mich verabredet, mit ihr, mit ihr, mit ihr und mit keiner der vielen andren; sicher meine Idee, nicht ihre. Keiner von uns beiden hat sich je wieder beim anderen gemeldet. Oder hat sie wie ich das Telefonbuch durchstöbert? Es gibt zwei, die meinen Vor- und Familiennamen haben, hat sie sich Gedanken gemacht, welcher der beiden ich bin? Immer habe ich es mir gewünscht, bis heute, dass sie zumindest an mich denken sollte. Ihrem Kind, oder hat sie zwei? wird sie nie ein Wort von mir gesagt haben. Kinder fragen nicht, Mama, wer hat das schöne Foto von dir gemacht? Sind diese bunten Briefe alle von Papa? Und der Vater des Kinds weiß er, wer ich war oder nicht? Interessiert ihn auch nicht. Habe ich ihn jemals gesehen? Kann mich nicht mehr daran erinnern. Anfangs war er sehr gemein zu ihr, sie hat am Telefon geschluchzt. Da rase ich durch die ganze Stadt zu ihr, um sie zu trösten.

59.
Ich muss mich konzentrieren, auf sie konzentrieren, darf meine Gefühle nicht durch andere Frauen verfärben. Ob sie immer noch eifersüchtig ist? Die alten Geschichten raus kramt, die noch getränkt sind von ihrer Wut, ihrer Enttäuschung, ihrer Bedrohtheit. Nicht über die Vergangenheit sprechen, aber worüber dann? Doch nicht übers Wetter, das Landleben, die Terroristen, das Ost-Westgefälle. Über Literatur? O Gott. Ich könnte sie durchs Haus führen, falls ich den Schlüssel finde, aber als was? Als Verwalter; als Kenner, wie man einen Laufkunden durch seinen Supermarkt führt, wo man alles auf Anhieb findet, ohne rumzuirren oder zu grübeln, nach welchem System hier wohl geordnet ist. Ihr Lob der Räume, ihr Entzücken oder Staunen, was hab ich damit zu tun. Nur weil ich schon vor ihr Gast hier war. In der öffentlichen Bibliothek werde ich oft von Schülerinnen angesprochen, die nichts finden. Ich zeige es ihnen, betone dann aber: ich bin nicht der Bibliothekar.

60.
Du kannst dir aussuchen, wo du schlafen willst, biete ich ihr an. Oder neutraler: hier, in diesem Zimmer schlafe ich sonst, aber wenn du möchtest... Mit ihr im selben Zimmer, gar in einem Bett? Ich konnte damals schon nicht schlafen, wenn das Bett zu eng war, kann ja kaum in einem großen Bett allein schlafen. Hab eigentlich nie bei einer Geliebten die ganze Nacht verbracht, und wenn ich mal blieb, dann lag ich neben ihr wach. Regungslos, scheintot. Die brennenden Augen zugepresst, hinter den Lidern aber weit aufgerissen. Hab ich mich selbst bewacht? Angst, ich würde vom Turm herabstürzen, wenn ich einschliefe? Ihr musste ich nur die Hand aufs Gesicht legen, schon zuckte sie weg, versank weich in den Schlaf und ich blieb zurück. Erst erleichtert, bald ratlos. Bis heute muss ich eine Uhr mit Leuchtziffern am Bett haben, die mir die Stunden klein hackt. Damit ich am unzerteilten Brocken der endlosen Nacht nicht ersticke. Aber sie muss lautlos sein, dem Ticken würde mein Herzschlag nachrennen wie dem Rattenfänger.

61.
Wie bei einem unvermuteten Durchzug, da öffnet einer die Tür und alles, was mühsam geordnet auf dem Tisch lag, flieht, vermengt sich, verstreut. So wirbeln mir alle Frauen meines Lebens durcheinander. Als ungeheurer Gefühlsbrei. Süß und sauer und bitter und mild durcheinander gematscht. Waren sie denn so unterschiedlich? Ging’s nicht fast immer nur um wenig, das mir freilich als das Ganze, als alles galt? Das große Gefühl für den kleinen Schlitz, das Zittern nach der Handvoll Brust. Nein, das Lachen war es, nein, die Akzeptanz, Wohlwollen. Und der Trost der Nähe. Und wenn er sich einstellte: war’s am Ende nicht immer bei jeder das Gleiche?
Wem zuliebe bestehe ich auf Unterschiede? Ich bin kein Allesfresser, Loch ist nicht Loch, nur ein bestimmter Frauentyp brachte mir das große Begehren, das wabernde Glück. Gab’s Abweichungen, Inkonsequenzen, Ausrutscher aus Neugier? Oder vermenge ich jetzt die Frauen meines Lebens, um endlich die Idealfrau zusammenzustecken, die Hand füllende Brust, die sanften Schamhaare (bloß nicht zu üppig, lieber mädchenhaft flaumig, - aus Angst vorm wilden Weib?), die warm zufassende Hand, der seelenvolle Blick, die samtige Stimme. Wie bei einem Vexierbild: der angestrengte Blick lässt alle Konturen verschwimmen, ich weiß nichts mehr. Wie wenig ich aus dem Gedächtnis abrufen kann, wenn ich die Namensschublade ziehe. Ein paar Szenen, unscharfe Situationen, kaum Dialogfetzen. Reisen. Räume. Eine Grundstimmung. Ich beanspruche Unterschiede? Da hätte ja auch ich nuancenreicher in meinen Bedürfnissen sein müssen, dazu den Mut zu ihrer Realisierung. Aber so war ich nicht, so bin ich immer noch nicht. Es soll tausende von Unterschieden beim Wasser geben, aber der Dürstende bemerkt doch nur, dass es seinen Durst stillt.

62.
Die Magie des Weibes,- ich erinnere mich an den tiefen Schock, als ich in Hamburg in der anatomischen Sammlung eine Vagina in Formalin sah. Ausgebleicht, in der Flüssigkeit sanft wabernd, winziger als in meiner Erinnerung. Nicht mal handgroß. Und ich dachte: diese vier, fünf Zentimeter bestimmen mein Leben?

63.
Ich spüre es: diese Beziehung ist ein zu sehr beschriebenes Blatt, überkritzelt, rumradiert und dann doch den gleichen Text wieder draufgeflickt. Ohne den Zauber des Neuen, Unbekannten, nicht das Versprechen des leeren Blatts, auf das man, so die unbelehrbare Hoffnung, diesmal ganze neue Worte, ungeheure Sätze, großartige Geschichten schreiben wird. Brilliante Dialoge, ein Wort gibt das andere und führt in’s noch nicht Betretene, ein genialer plot, der gemeinsam entwickelt wird. Nicht Verjährtes entziffern, nichts Unleserliches erraten, keine Lücken ergänzen. Neuanfang!
Ach, die alten Missverständnisse, rechthaberisch werden wir sie wieder aufstapeln. Man hört nicht mehr den Part des Anderen, sondern versucht sogleich die zerkauten Einwände von damals zu rekonstruieren. Welche Mühsal und wozu? Soll ich nicht lieber abreisen, ehe sie kommt? Mit oder ohne Zettel an der Tür. Oder darf ich hoffen, dass sie, die gleichen Gedanken durchspielend, die gleichen Gefühle abschmeckend, dass sie selber ihr Auto anhält, aussteigt, als wolle sie sich die Felder ansehen. Aber sie hat sich schon entschieden. Heiter steigt sich wieder ins Auto, wendet. Nicht leicht auf diesem schmalen Feldweg. Dieser Umstand bestärkt sie in ihrem Entschluss, sie lächelt, ist zufrieden mit sich. Sie war schon so nah, dass sie fürchten musste, ich käme ihr entgegen.

64.
Nachmittags, wie ungenau. Wir hatten verabredet, dass sie nachmittags käme. Am frühen Nachmittag, am späten? Was ja auch noch ungenau genug ist, da der Wartende immer mit Sekunden rechnet. Nichts reißt so sehr aus dem Hier und dem Jetzt hinaus als Warten. Warten ist das wahre Prokrustesbett; du bist festgezurrt an das Hier, aber dein Herz scheucht dich unausgesetzt hinaus. Lauernd auf jedes Geräusch, jiepernd nach jeder Bewegung, bezogen auf den Messias, der da kommen soll, um dich zu erlösen. Ich bin hier und du bist nicht hier. Schrecklicher als Sehnsucht. Der Weibertrick, beim Schminken kichernd weitergegeben: du musst ihn zappeln lassen, bloß nicht pünktlich kommen; wirst du berechenbar, hakt er dich ab. Ich bin immer pünktlich, zuverlässig wie lauwarmes Wasser, man kann sich auf mich einstellen.

65.
Und wenn ich abfahre, ehe sie ankommt? Fliehen: als ob man im Zeitalter des handys noch so einfach verschwinden könnte. Unerreichbar sein. Wenn`s klingelt, nicht öffnen, ich war nicht zuhause? Du hast doch einen Anrufbeantworter - ich hab dir auf die mailbox - kannst du keine SMS entziffern...
Auf dem schmalen Weg würde ich ihr unweigerlich begegnen; einer von uns beiden müsste anhalten, den anderen vorbeilassen. Sie würde meinen, ich sei ihr entgegengefahren, aus Ungeduld, nein Sehnsucht, weil ich es nicht mehr erwarten konnte.

66.
Hier in der Stille verebbt langsam der unausgesetzte Lärm des weiblichen Körpers, der in der Stadt leibhaftig oder als überdimensionales Heiligenbild an den Litfasssäulen und Plakatwänden auf mich einschreit. Unausweichliches Kommando: Herschauen!! Unterbrich deine Gedanken, bündle deine Aufmerksamkeit auf meine Brüste, vernachlässige den Rest der Welt zugunsten meiner Hüften. Marionettenhände ziehen an meinen Händen mit unsichtbaren Fäden, erzeugen imaginäre Grabschbewegungen. Wuchernder Nähewunsch wildfremden Frauen gegenüber. Was für ein Zwang zum Bezug. Von allen Werbefläche keift es: He du da, ich rede mit dir! Selbst mein Widerstand, der Versuch, mich dagegen zu wehren, ist ja noch mal heftiger Bezug.

Aus fremder Kultur kommend muss ein Mann alle jungen Frauen bei uns für Prostituierte halten, perplex über ihre unbefangene Omnipräsenz, verwirrt über ihre heitere Selbstbezogenheit, die ohne Verkaufsinteresse scheint. Wenn nicht schon die Kleidung den Leib verdeutlicht, Neugier und Begehren steigernd durch Pseudoverhüllung, so ist es die pure Nacktheit, Nabelschau bedeutete einmal etwas ganz Anderes. Die tief sitzenden Hosen, wie herabgerutscht, die die Einbuchtung der Beckenknochen freilegen. Die Blickrutsche der Beckenknochenkuhlen, Wegweiser für die erkundende, hinab gleitende Männerhand. Jeder Versuch, darüber einmal mit einer jungen Frau zu sprechen prallt völlig ab: an Verständnislosigkeit, Spott, Mokanz.

Auch junge, wie man meinen möchte, auf der Höhe der Zeit stehende Frauen, bei einer Abiturfeier zB, präsentieren sich geschlechtsspezifisch (durchaus abweichend von ihren männlichen Altersgenossen) als Leib: dh. nackt, die Schultern frei, mit wie gerade heruntergerutschten Ärmeln (die geöffnete Banane), Arme, Beine, natürlich der Nabel: nackt, die Brüste im großzügigen Decolleté nicht mehr nur erratbar.

67.
In der S-bahn sitzt mir eine junge Frau gegenüber, mit Ohrenstöpseln, die Musik aber unhörbar. Nicht das sonst so verdrießliche Zischen der Bässe. Sanfte Haut, vor allem der Mund ist bezaubernd, so sehr, dass er in mir einen heftigen Sehnsuchtsschub auslöst. Ich lege ihr, kurz bevor ich aussteige, ohne jeden weiteren Blickkontakt einen Zettel auf den Sitz hin: "Ich finde dich sehr schön".

68.
Nicht nachlassenden Schauder und ich weiß nicht, auf wen er sich mehr bezieht: auf Goethe oder Frau von Stein. Sie hat vor ihrem Tod verfügt, dass der Sarg mit ihrer Leiche nicht an seinem Haus vorbei getragen werde. (Goethe: "Den Tod statuiere ich nicht.")

69.
Nach hinten hat das Grundstück ein Loch hinaus in die Weite, die hinter den Bäumen, den Wiesen versickert. Ein Leck, das einen leichten Sog ausübt. Auch nach oben, zum blauen Himmel erscheint mir alles wie ohne Dach. Nur nach unten Festland; der seichte Teich, dessen Boden man sieht stört nicht das Gefühl, auf festem Grund zu stehen.
Mehr Atemraum als zu Haus auf meinem kleinen Balkon. Der ist Blumen bewehrt, Pflanzen umzäunt. Hier draußen fühle ich mich auf einer kleinen Insel, dort eher in einer Gondel, die fest betoniert ist. Hier wie dort unter einer Tarnkappe, die vieles verbirgt, aber nicht alles. Sie versteckt mich kurzfristig vor der Welt, nicht aber die Welt vor mir.

Im Radio höre ich einen Bericht über die Sudanflüchtlinge, vertrieben von angeheuerten Araberbanden. Es klingt nach 30jährigem Krieg (für uns eine Möglichkeit, dem Grauen einen Namen zu geben). Die Hereinbrechenden nehmen den Armen auch noch das Wenige weg, zerstören das, was sie nicht fortschleppen können, was den Überfallenen das Überleben sichern könnte. Und die Frauen, die Mädchen werden "natürlich" vergewaltigt. Nicht nur aus Lust, sie sollen Araberkinder gebären. Da ist keine Rede mehr von "natürlicher Zuchtwahl durch das Weibchen", Mister Darwin!
Als ob nicht genügte, was die Frauen dort als "normales" Leben haben. Mit zwölf an der Klitoris beschnitten. Danach teilen sie sich mit weiteren zwei Frauen einen Ehemann, der ihnen je zwölf Schwangerschaften verschafft, sieben Kinder werden lebend geboren. Tägliche Pflichten: Wasser holen, Feuerholz besorgen, Kinder erziehen, Erntearbeit. In der gleichen Sendung höre ich, dass in Rom Kardinal Ratzinger (auf seinem Purpursessel hockend) vorm Feminismus warnt. Der bedrohe die (heilige) Familie, weil er den Kampf der Geschlechter nach vorne rücke.

70.
Für kurze Zeit wollte sie ihren Namen ändern; ihm durch ein paar umgestellten Buchstaben eine weniger banale Nuance geben. Niemand außer mir hat mitgespielt. Meine Mutter war irritiert: hast du eine neue Freundin? Nein, sie heißt jetzt so. Aber man kann doch als erwachsener Mensch nicht einfach seinen Namen ändern, - ja was dann? Sind es nur die Anderen, die uns in eine Lehmform einbacken? Wer wacht, dass sie nicht zerbricht?
Ich bin wie dieses schauderhafte Fliegenpapier, unbarmherzig klebrig halte ich Wünsche fest, die nur flüchtig waren, vielleicht nicht wirklich ernst gemeint, halt mal so rausgeblubbert (man müsste mal...), nehme sie beim Wort. Wie soll ich dich nun ansprechen? Mit dem alten, mit dem neuen Namen, an den du dich vielleicht gar nicht mehr erinnerst. Eine kleine Laune, von mir sogleich, naiv-pedantisch, aufgespießt. Schmetterlingssortierer. Der Seifenblasen in Marmor meißeln will. Meine eigene unbelehrbare Hoffnung, dass man noch mal von vorne anfangen kann, weil man’s so dringlich wünscht, weil man sich davon die Heilung verspricht. Unterm klemmenden Kokon wartet der Schmetterling auf seine Stunde. Tut so, als wär’ er nicht längst ausgeschlüpft. Nur im Märchen wird am Ende alles wieder gut, wird das Alter, der Verfall, das Nachlassen der Wünsche ausgelöscht, mit einem Schwamm, der nicht mal Dreckspuren zurücklässt.

71.
Ich weiß nicht, wie du dich inzwischen verändert hast. Die Hüften runder, sicher; schon ein paar Falten um den Mund und die Augen; schwerfälliger im Kreuz. Die Zähne? Vielleicht die eine oder andere Narbe. Du bist einmal zehn Jahre jünger gewesen als ich, oder mehr? Aber mit zunehmendem Alter schmilzt der Vorsprung der Jahre.

Ich bilde mir ein, dass ich fett geworden bin, zu fett. Zuweilen grabsche ich nach meinen Bauchfalten, drücke sie prüfend zusammen, das überflüssige Gewicht abschätzend. Ich möchte sie raus reißen, wie man eine missglückte Seite Papier gehässig aus der Schreibmaschine zerrt und zerknüllt, damit sie sich besser weg schmeißen lässt. Grob und ordinär klatsche ich dann darauf, ohne jene vulgäre Geilheit des Bierbürgers, der der Bedienung auf den Arsch patscht. Es ist der Stoff zum Selbsthass.

72.
Deine Vorgängerin hat mich verlassen, weil ich ihr zu zuverlässig war, zu sicher. Also langweilig. Ich muss um die Aufmerksamkeit eines Manns kämpfen, er darf sie mir nicht zu Füßen legen, hat sie mir erklärt und ist gegangen.

73.
Am Morgen bin ich immer wie verirrt, weiß nicht, wohin mit mir, blicke ziellos aus dem offenen Fenster, stehe mit nackten Füßen verloren auf dem kalten Steinbalkon. Wie ein routinierter Schauspieler, der seinen Text vergessen hat und nun seinen Hänger mit Räuspern und Wursteln überspielt, rette ich mich ins Frühstück, dann in die Zeitung. Im Haushalt gibt’s auch immer noch etwas zu tun. Aber ich weiß, bald kommt der Zeitpunkt, da ich mich so leer fühle, dass ich einen Weg hinaus aus diesem leeren Glashaus finden muss. Oh, da gibt es als letzte Ausflucht immer noch das Tagebuch, in dem ich - Zeit gewinnen! - über diese meine Orientierungslosigkeit jammern kann. Bin ich Vampir, dass erst die Dämmerung mich aufblühen lässt? Die kleine Welt des Lampenlichtkegels, ein Buch vor mir, das Briefpapier, mein Tagebuch, der Bleistift zum Lesen, den Füller zum Schreiben. Eine übersichtliche Miniwelt. Die mir weniger eng vorkommt als die ganze Wohnung tagsüber. Eher als Bühne, auf der sich erdachtes, ersehntes Leben abspielt. Zuhause sitze ich gerne draußen auf dem Balkon, hier unter den Bäumen ist mir schnell so, als wäre mir im Schlaf die Decke runtergerutscht; davon wird man, meist zu spät wach, schauernd. Seltsam: ich bin nur morgens müde, nie am Abend. Irgendwann gehe ich nur aus Vernunft ins Bett.

74.
Der Zulauf zum Teich plätschert so tröstlich durch die Nacht. Auch das Feuer knistert zurückhaltend, als spräche die Geliebte mit gedämpfter Stimme, die Frösche haben aufgehört, ins Wasser zu patschen. Fledermäuse zucken wie schwarze Blitze über meinem Kopf. Der Rotwein ist undurchsichtig schwarz geworden. Ach, und ein Käuzchen huhut, da denke ich einen Augenblick, ich sei in einem Film.

75.
Der Mann: immer hinein; die Frau: immer herein. Explosion, Implosion. Lauter Einbahnstraßen.

76.
Seltsam, dass ich oft denke: was macht nun wohl in diesem Augenblick der oder der? Nein, es sind fast ausschließlich Frauen, über die ich mir Gedanken mache. Natürlich in der Hoffnung, grad jetzt möchten auch sie an mich denken. Meine Sehnsucht spiegeln. Heftig, entbehrend, bereuend, tastend: die Brotkrumen Hänsels zurück durch die Zeit sammelnd bis zu mir.
In Wahrheit liegen sie breitärschig im Bett und schnarchen. Dösen knabbernd vorm Fernseher. Oder zanken. Oder mühen sich ab, den routinierten Ehesex mit Anstand zu absolvieren. Und wenn sie sich schlaflos wälzen? An mich denken sie zuletzt. Täten sie es: hülfe es mir?

77.
Der berühmte Forscher Galvani kommt nach Mecklenburg, nach Vossfeld gar und steht lüstern vor dem Teich: ah, die Frösche. So viele, so groß, so kräftig die Muskeln. Seine Augen leuchten experimentiergierig. Die Tiere, in wilder Panik, es hat sich herumgesprochen, versuchen sich ins Wasser zu retten. Dort kreischt, Kinder vergnügt die Hausherrin, dreht ihre kleinen Schwimmrunden, nimmt das Fluchtgeplatsche der grünen Quaker als Huldigung an ihren Teich.
Das Wasser trübt sich unter ihren Schwimmwirbeln, wird schlammbraun, wenn sie die wenigen Schritte zur Treppe watet. Jetzt fühlen sich die Grünen sicher, am liebsten würden sie ihren Dank hoch quaken. Signor Galvani aber überlegt schon: wo? Sein Blick mustert die Vorhalle zum Nebenhaus, dort hat ein großer Tisch Platz, darauf alle Geräte. Hinter seinem Rücken versteckt er den Käscher.

6.11.04